Transkript zur Folge Über Demenz schreiben. Mit Schriftsteller Arno Geiger
Als ich das erste Mal sagte: „Ich gehe mit“, bemerkte ich den Unterschied sofort. Das ist Solidarisierung. Endlich sagt jemand nicht Nein, sondern Ja. Und wie wichtig ein Ja für uns alle ist: Wenn wir den ganzen Tag nur Nein, Nein, Nein hören, werden wir verrückt, und die Abwärtsspirale dreht sich, weil mein Vater sich ganz sicher war. Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von „Leben, lieben, pflegen“, dem Desideria Podcast zu Demenz und Familie. Mein Name ist Peggy Elfmann. Ich bin Journalistin und Bloggerin bei „Alzheimer und Wir“.
Hallo und willkommen. Ich bin Anja Kälin, Familiencoach und Mitgründerin von Desideria Care. Wir begleiten Angehörige von Menschen mit Demenz. Das tun wir mit unterschiedlichen Angeboten wie Angehörigenschulungen und Coachings. Ich freue mich ganz besonders auf unseren heutigen Gast, denn er hat ein Buch geschrieben, das mich sehr berührt und mir auch Mut gemacht hat. Es geht um das Buch „Der alte König in seinem Exil“, und zu Gast ist der Schriftsteller Arno Geiger. Schön, dass Sie da sind. Wir freuen uns sehr.
Ja, schönen guten Tag. Ich freue mich auch sehr. Doch bevor wir anfangen, möchten wir noch Danke sagen. Ein großer Dank geht an Desideria. Der Verein ermöglicht die Produktion dieser Folge. Ganz herzlichen Dank.
Herr Geiger, das Thema Demenz spielt ja in mehreren Büchern so ein bisschen hinein. In „Der alte König in seinem Exil“ geht es ja ganz dezidiert darum, um Ihren Vater und seine Alzheimer-Erkrankung. Ja, ich weiß aus eigener Erfahrung, es ist irgendwie so ein persönliches Bedürfnis, darüber zu schreiben oder sich schreiberisch damit zu beschäftigen. Was war denn der Anlass oder das Motiv, einen Roman darüber zu schreiben?
Ja, „Der alte König in seinem Exil“ ist schon ein paar Jahre her. Die Situation war damals anders. Es gab noch nicht so viele erzählerische Bücher nach meinem Empfinden und meiner Herkunft nach der Kultur, in der ich einst war – da war das noch so ein bisschen schambehaftet. Man sprach eher nicht darüber, es fand jedenfalls nicht in der Mitte der Gesellschaft statt. Ich fand das aber sehr einschneidend, was mit uns passierte. Ich sage ganz bewusst „uns“, weil eine Demenzerkrankung auch eine Erkrankung der Familie ist. Es reißt alle in ein neues Zentrum. Ich fand das sehr einschneidend, vieles überraschend und nicht deckungsgleich mit den Klischees, die man mir vermittelt hatte.
Und gut, ich habe ein waches Auge für die Welt. Ich weiß, das ist die Welt, die ich mit anderen teile. Und als Schriftsteller soll man nicht über das Zweitwichtigste schreiben, sondern über das Wichtigste. Und ich habe gemerkt, dass sich in dieser Lebensetappe alles um das dreht, was mit meinem Vater passiert. Alles gruppiert sich neu um den Papa. Wir mussten unser Leben verändern. Ich hatte ein ganz tiefes Gefühl davon, dass ich etwas zu erzählen habe, und das ist das Großartigste überhaupt für mich als Schriftsteller. Ich glaube nicht an Bücher, die man sich aus den Fingern zieht, um es mal so zu sagen.
Setz dich hin und schreib über das, was dir wichtig ist. Ich finde es total schön, weil schon allein in diesen paar Sätzen spüre ich wieder, was die Sprache auch macht, nicht wahr? Also, mir ging es so, als ich dieses Buch gelesen habe, da hat meine Mutter noch gelebt, und das war eines der ersten Bücher, die ich überhaupt zu dem Thema gelesen habe, weil ich wollte das nicht so an mich heranlassen. Und dieses Buch hat mir einfach in seiner Sprache total viel geschenkt. Ja, ich habe Wörter gefunden, ich habe Sätze gefunden, die mir so aus dem Herzen gesprochen haben, und wo ich wirklich auch das Gefühl hatte: Ja, krass, so ist es. Insofern war es ein Geschenk für mich, weil es so der erste Zugang war, und es hat mich wirklich sehr berührt, dieses Buch. Sie haben gerade davon gesprochen, dass auch das Schreiben darüber etwas verändert. Also wie bei mir das Lesen. Was war diese Veränderung?
Also, zunächst würde ich schon sagen, dass der Prozess etwas mit uns macht. Ich war Ende 20, als es so langsam losging, 30, als sich die Erkrankung so richtig manifestiert hatte, und so grundsätzlich stand ich an dem Punkt: Ich bin jung, ich bin intelligent, ich bin gesund, mich wirft nichts um. Und dann kommt – ich sage das jetzt unter Anführung – etwas eigentlich Alltägliches, und das wirft mich um. Ich bin völlig hilflos. Ich weiß nicht, wie ich jetzt darauf reagieren soll, also irgendwie nur Protest: Ich will das nicht, das ist ungerecht. Das Leben ist eh schon schwierig genug beruflich. Wie das mit mir werden soll. Hilfe! Und jetzt das, irgendwie reißt uns das jetzt alle nach unten. Gut.
Also zunächst einmal hat mich das bescheidener gemacht. Es braucht gar nicht so viel, dass ich merke, wie wenig Kraft ich habe, wie wenig Übersicht ich habe. Und das Schreiben, das kommt ja dann sehr viel später. Eigentlich wollte ich kein therapeutisches Buch schreiben. Im Gegenteil, ich wusste, wenn man mittendrin ist, also man braucht Distanz zu dem, worüber man schreibt, um gut darüber schreiben zu können. Und von den Anfängen her gesehen sind das fast 15 Jahre, bis ich das dann geschrieben habe, als ich wieder eine wirklich stabile Beziehung zu dem Ganzen hatte. Mein Vater hat noch gelebt, aber es war weiterhin mein Vater, und mir war klar, ich werde auch noch zwei oder drei Stufen tiefer hinabsteigen.
Das macht überhaupt keinen Unterschied. Das ist mein Vater, ich liebe ihn. Irgendwann wird er sterben, und dann wird er mir fehlen. Aber es war keine Angst mehr da. Es war keine Hilflosigkeit mehr da, sondern einfach: Wir gehen gemeinsam hindurch. Schade, dass uns das passiert ist. Wir haben uns das nicht ausgesucht, aber vieles sucht man sich im Leben nicht aus. Und dann heißt es halt, einen Weg zu finden, damit umzugehen, der einen nicht verzweifeln lässt, und vielleicht ist da auch mal ein guter Moment dabei. Und eigentlich erzähle ich davon in dem Moment, in dem ich diesen Boden unter den Füßen habe, erzähle ich davon.
Das heißt, in diesen schweren Phasen oder in diesen angstauslösenden Phasen haben Sie gar nicht darüber oder davon geschrieben? Doch, das Nachhaken ist gerechtfertigt, weil ich Tagebuch schreibe. Ich wollte gerade sagen, ohne das Schreiben… so gesehen stimmt es dann schon auch wieder, dass dieses Schreiben am Abend oder in der Früh, wenn ein ruhiger Moment ist, dem Leben einen Mehrwert gibt. Oft ist es Routine in der Alltagsbetreuung, und dann schleicht sich der Gedanke ein: Bin ich wirklich die Idealbesetzung dafür? Ich würde doch lieber woanders schwimmen oder am Schreibtisch sitzen. Und doch, im Rekapitulieren oder im Niederschreiben bekommt das plötzlich eine Bedeutung; da ist plötzlich ein Wert vorhanden. Dann erinnere ich mich an ein kurzes Gespräch, das wir ein paar Stunden zuvor hatten. Und im Niederschreiben denke ich mir: Ah, das ist mir in diesem Trubel, Alltags-Dubel, gar nicht aufgefallen, dass da noch wirklich etwas Tieferes drinsteckt als auf den ersten Blick. Und davon zehrt das Buch dann auch, dass ich auf Tagebuchnotizen zurückgreifen kann.
Ja, ich glaube, das ist auch genau das, was mich oder was mir so Mut gemacht hat: diese kurzen Dialoge mit diesen tiefen Gedanken, wo ich gedacht habe, ja, okay, die Demenz ist da, aber da bleibt ja auch noch anderes da, oder? Es gibt also trotzdem, die Person verschwindet nicht, sondern sie kann trotzdem noch ganz philosophische Dinge sagen. Das – das war für mich mutmachend nach der Diagnose meiner Mama. Letztlich ist es eine Aufforderung, auch diese Menschen nicht zu unterschätzen. Natürlich ist der Rahmen, der hier gesetzt ist, ein eher dunkler Rahmen, aber gleichzeitig zwingt es einen auch, aus diesem funktionalen Gespräch des Alltags herauszugehen, weil jeder weiß, was er zu tun hat. Jeder ist orientiert, und man tauscht im Großen und Ganzen eben nur Informationen aus. In der Krise rücken die Menschen oder da rückt die Familie im besten Fall zusammen, und der Ton ändert sich. Man redet über grundsätzlichere Dinge.
Ich komme ja vom Dorf, ländlicher Hintergrund, katholisch. Über Gefühle, über Persönliches redet man tendenziell eher nicht. Mein Vater sowieso nicht. Und plötzlich redet er aus einer Tiefe heraus. Es muss immer da gewesen sein, aber es hatte keinen Platz in dieser Form von Kultur, in der wir beide sozialisiert waren. Und gut, ich habe oft auch am Küchentisch gearbeitet. Ich musste irgendwie mein Leben und sein Leben unter einen Hut bringen, und wenn wir geredet haben, habe ich am Laptop die Datei gewechselt und mitgeschrieben. Und das ist das Allergrößte überhaupt, dass das eben mein Vater ist, der da spricht. Das ist nicht:
„Ungefähr so hat er das gesagt“, sondern: „Genau so hat er das gesagt.“ Ja, und ich glaube, das habe ich beim Lesen auch so gespürt. Das ist, glaube ich, auch das, was du meinst, nicht wahr, Peggy? Ich habe so gedacht: Ja, genauso hört es sich an. Und ich fand das sehr hilfreich, dieses Umdeuten. Ja, also was ja in dem Buch dann auch passiert, dieses Reflektieren: Ja, wie viel ist denn da noch vom Vater da? Und das hat mir noch mal einen Zugang gelegt, auch wiederum zu meiner Mutter, nicht wahr? Also zu sehen: Okay, wie kann ich mit dem, was vielleicht jetzt auf den ersten Blick keinen Sinn macht, aber trotzdem irgendetwas anfangen, ja? Oder wie kann ich damit in Resonanz gehen, wenn ich es mal aus diesem Kontext, der so eingespielt ist, rausnehme? Also, das war, glaube ich, so das, was ich da auch sehr mitnehmen konnte und sehr gewertschätzt habe beim Lesen.
Was hat denn das Mitschreiben oder das Aufschreiben in den Jahren mit der Beziehung oder im Umgang auch mit Ihrem Vater bewirkt? Also, ist es auch zur Reflexion oder zum Dinge irgendwie beim nächsten Mal anders machen und beim nächsten Mal geduldiger sein oder so gewesen? Ich bin ein Mensch der Schrift und des Wortes. Das ist klar. Ich bin Schriftsteller geworden, weil mir diese Form des Ausdrucks offenbar liegt. Und meine Schwester ist Musikerin, die hat ihre Gitarre mitgebracht, und die haben halt gesungen.
Und mein Herz findet man vielleicht doch. Jedenfalls ist es ein guter Weg über die Sprache und über das Gespräch, und das hat meinen Vater und mich verbunden, weil das für ihn auch gilt. Aber wahrscheinlich sind wir die Einzigen in der Familie, wo das so stark ausgeprägt ist, und wir sind uns näher gekommen. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis, aber wie so oft im jungen Erwachsenenalter dann kein besonders nahes Verhältnis, weil gut, ich bin studieren gegangen, ich wollte meinen eigenen Weg gehen. Natürlicherweise grenzt man sich von den Eltern bis zu einem gewissen Grad ab, weil man eben eine eigene Person werden will. Und dann ruft mich das Schicksal zurück, um das jetzt einmal blumig auszudrücken, und ich gehe zurück, sehr widerwillig. Da muss ich wirklich sagen, sehr, sehr widerwillig, aber in familiärer Solidarität und weil ich meinen Vater ja immer sehr gemocht habe. Er war ein guter Vater für kleine Kinder, hatte immer Zeit und viel mit uns gemacht, ein ganz netter Mensch. Aber später mit pubertierenden Kindern, da hatte er überhaupt keine Strategie, überhaupt keine, was er mit denen machen könnte. Gut. Ja. Und dann konnten wir aber auf das zurückgreifen, auf diese frühe Beziehung, und wir – und das wurde wieder sehr innig.
Und in gewisser Weise hat die Krankheit nicht nur genommen, sondern auch gegeben. Also, wir mussten uns verändern. Wir konnten nicht so weitermachen wie davor, aber wenn wir so weitergemacht hätten wie davor – es war eigentlich sehr distanziert –, wäre es auch schade gewesen. Wie schade, dass es so gekommen ist, aber das Gute, das stattgefunden hat, möchte ich auch eigentlich nicht hergeben. An einer Stelle erinnere ich mich, da geht es darum, dass der Vater dann immer mehr in einer fiktiven Welt lebte, und seine Welt war die richtige, und die Familie und Sie sich in diese fiktive Welt begaben und eben so mit ihm kommunizierten und so auch Kontakt mit ihm aufnahmen. Ich habe mich gefragt, ist es Ihnen als Schriftsteller vielleicht dann auch besonders leicht gefallen, diese Welt der Fiktion zu übernehmen und da zu sein, weil ich meine, ich höre das ja oft oder von vielen, es ist so, dann ist es halt irgendwie schwierig, weil man verharrt in der, in der man eigentlich lebt und meint, das muss doch so sein. Und gut, ich glaube, das ist ein Weg, den viele gehen. Am Anfang denkt man, nee, das muss doch so, und ich muss das durchsetzen, man muss korrigieren, und irgendwann nimmt es halt immer mehr ab. Aber ich habe das Gefühl, das ist Ihnen besonders leicht gefallen.
Ja, klar. Ich war prädestiniert. Da finden sich zwei. Es war ein langsamer Krankheitsverlauf. Das war wichtig, also dass ich adaptieren konnte, dass ich, wenn mein Vater nach Hause wollte und ich habe ihm zehn oder hundert Mal versucht zu erklären, dass er zu Hause ist, und er hat darauf beharrt, dass er jetzt nach Hause gehen will, gut, dann waren diese zehn bis hundert Mal irgendwie vergeblich. Als ich das erste Mal sagte: „Ich gehe mit“, bemerkte ich den Unterschied sofort. Das ist Solidarisierung. Endlich sagt jemand nicht Nein, sondern Ja. Und wie wichtig ein Ja für uns alle ist: Wenn wir den ganzen Tag nur Nein, Nein, Nein hören, werden wir verrückt, und die Abwärtsspirale dreht sich, weil mein Vater sich ganz sicher war. Ich habe gefragt: „Ja, wie schaut es denn bei dir zu Hause aus?“ Und dann hat er sich umgeschaut und gesagt: „Ja, eh so wie hier, aber ein bisschen anders.“ Und dieses „ein bisschen anders“ ist die Krankheit, und das Ja nimmt die Krankheit weg, weil dieses Ja, das habe ich sofort begriffen, das ist ein Stück Zuhause. Wenn er sagt: „Ich gehe mit“, dann ist das Erlösung. Jetzt gehen wir gemeinsam nach Hause. Und dann war es ihm auch gar nicht mehr so wichtig, muss ich sagen. Dann konnte man auch sitzen bleiben. „Ja, dann bin ich ja gerettet. Das ist ja großartig. Du gehst wirklich mit?“, sage ich. „Ja, selbstverständlich gehe ich mit.“ Und dann gehe ich halt in etwas hinein, was ich natürlich auch beruflich mache, wenn ich Romane schreibe, dass ich Situationen imaginiere, komplex. Das ist eben auch ein Talent, das bei mir vielleicht stärker entwickelt ist als bei manchen anderen. Gut, sonst stünde ich nicht dort, wo ich stehe. Das ist in die Wiege gelegt. Das ist auch nichts, was man lernen kann, glaube ich. Man kann sich schon ein bisschen Anhaltspunkte setzen, dass ich eben manchmal einfach Ja sage und nicht ständig Nein, weil das Nein nichts bringt, während das Ja beruhigt.
Ja, tatsächlich. Also im Therapeutischen wird das eben auch genutzt, nicht wahr? Mitgehen und gucken, was passiert, wenn ich mitgehe. Also, wenn er sich hier nicht wohlfühlt und weg will und sagt irgendeine Form von „Daheim“. Ich glaube, dass das etwas ganz grundsätzlich Menschliches hat. Also, es hat mit Geborgenheit zu tun, mit Sicherheit. Und die Krankheit schafft eine Irritation von „Hier stimmt etwas nicht, irgendwas passiert mit mir.“ Und ich hätte gerne, dass das verschwindet, und wie kann ich das erreichen, indem ich an einen Ort gehe, an dem wieder alles an seinem Platz ist, an dem ich diese Geborgenheit, die ich früher hatte, wiederbekomme? Und so wird das Nachhausegehen zur Metapher, so etwas wie eine Art von Himmelreich, dort wo ich genug bin, wo ich nicht mehr infrage gestellt werde.
Ich habe das dann nicht mehr als einen konkreten geografischen Ort mit Hausnummer, Straße und Hausnummer gesehen, sondern als etwas Menschliches, Befindliches. Daheim ist, wo ich mich wohlfühle. Und dann ging es nur noch darum, wie stelle ich die Situation her, dass der Papa sich wohlfühlt, und das ging mit Singen aber genauso, wenn meine Schwester mit ihm gesungen hat. Wir waren breit aufgestellt. Hört sich so an. Sehr gut. Ja. Ja. Und so ist es ja dann. Also wie ist die ganze Familie beschäftigt? Hat auch die ganze Familie im Idealfall Ressourcen, die sie anbieten kann, und jeder auf seine Art und Weise. Und das ist halt schön, wenn man herausfindet, dass jeder individuell vielleicht auch etwas anbieten kann oder einen Weg findet im Umgang mit einem Menschen mit Demenz. Haben Sie sich Inspiration geholt oder Anregungen von anderen, oder sind Sie da intuitiv drauf gekommen, eher so im Ausprobieren? Da muss ich leider sagen, dass ich das verabsäumt habe. Wäre besser gewesen, wenn ich mich mehr informiert hätte. Während der ersten Jahre haben wir im Chaos gelebt. Ich hatte so das Gefühl, ich habe überhaupt keine Zeit dafür. Ich habe keine Kapazitäten dafür, keine Energie, und alles geht den Bach runter. Also auch meine berufliche Zukunft, die eh schon mit hunderten Fragezeichen versehen ist. Gut, also so war das mehr mit Hinfallen und Aufstehen und Hinfallen und Aufstehen und Lernen aus Fehlern und Irrtümern. Aber gut, das ist dann irgendwie, weil der Krankheitsverlauf recht langsam war, gab es ausreichend viele Wiederholungen, um dann einmal zu sagen: „So, jetzt mache ich das anders“, und dann konnte ich vergleichen, leider. Aber ich habe dann gegen Ende dieses Prozesses gedacht: Ich schreibe jetzt das Buch, das ich am Anfang gebraucht hätte.
Kommt bekannt vor, der Gedanke. Aber haben Sie eine konkrete Idee, was Sie gerne früher gemacht hätten oder was konkret Sie gerne am Anfang getan hätten? Na ja, überhaupt in Betracht gezogen, dass mein Vater krank sein könnte. Ja, das habe ich ihm – das klingt jetzt blöd – ich habe es ihm gar nicht zugetraut. Ich habe es ihm förmlich und ergreifend nicht zugetraut. Die Eltern hatten sich getrennt, und ich habe mir gedacht, der lässt sich jetzt hängen, dem ist alles Wurst. Der interessiert sich, aber klar, dann erinnert man sich: Früher, der hat sich eh noch nie für mich interessiert, und ich habe ihm da vielfältig Unrecht getan.
Und er hat den Kopf eingezogen oder hat reingeschaut wie ein Pferd im Winter, also hat das so über sich ergehen lassen, hat aber nie gesagt: „Du Arno, weißt du, ich merke mir das gar nicht, ist nicht das Interesse, da verändert sich etwas mit mir, und das macht mir auch Angst, und ich glaube, es wäre besser, wir würden jetzt zusammenhalten.“ Irgendetwas, dass er die Initiative ergriffen hätte. Stattdessen hat er sich zurückgezogen und war sicher eine sehr traurige Zeit für ihn. In der Bibel heißt es: „Die Kinder drehen sich um und zerstreuen sich“, und wir waren vier Kinder, und wir waren alle mit dem Aufbau eines eigenen Lebens beschäftigt. Die Mutter ist gegangen.
Und er blieb im Grunde allein zurück, nicht ganz allein. Ich war im Sommer vier Monate im Haus. Meine Schwester hat noch ein Weilchen dann wieder im Haus gewohnt, aber klar, alle berufstätig. Und das beschreibt ja ziemlich genau die Situation von vielen, gerade auch von Töchtern und Söhnen, nicht wahr, die da auch in so einem Spagat drinstecken. Heute würde man es wahrscheinlich Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Pflege nennen. Die Begrifflichkeit spielt da keine Rolle. Es ist eben eine Zerrissenheit und eine Ambivalenz und auch dann vielleicht am Anfang ein Nicht-hinschauen-wollen und Nicht-wahrhaben-wollen,
aber vielleicht auch ein Gar-nicht-Wissen-wollen, oder – also zum einen, dass die betroffene Person nicht wahrnimmt, was hinter Veränderungen steckt, oder dass man die Veränderung gar nicht wahrnimmt, ist ja auch typisch für Demenz, aber dass du als Angehöriger auch gar nicht in Betracht ziehst, dass das eine Demenz sein könnte. Könnte. Ja, genau. Und das haben wir schon viel besprochen, gerade bevor die Diagnose gestellt wird, dass es einfach teilweise ein langer Zeitraum ist, nicht wahr, der sich sehr komisch und uneindeutig entwickelt.
So schleichend. Ja, schleichend weiß man nicht. Ist so eine leichte Depression involviert nach der Trennung, weil vielleicht ist ja tatsächlich auch – es gibt ja auch Motivationsprobleme. Vielleicht mischt sich das, vielleicht bedingt auch das eine das andere bis zu einem gewissen Grad. Schwierig zu sagen, aber das Thema war eben nicht in der Mitte der Gesellschaft, und dass es in der Gemeinde einen Demenztag gibt, völlig unvorstellbar Mitte der 90er-Jahre.
Nein, das war halt leider alles nicht. Relativ spät sind wir in die Gänge gekommen. Nicht, dass es ganz zu spät war, aber es ist natürlich schade um diese paar Jahre, die besser hätten sein können und sollen. Also, da ist lieber einmal zu viel zum Doktor gegangen als zu wenig. Da wieder mal das Motto, weil wenn es berechtigte Anzeichen gibt, dann kann man vielleicht zumindest ausschließen. Nein, das ist offenbar nicht der Fall, da hilft ja auch weiter, und reden ist halt immer gut. Also, das tut mir schon leid, dass ich, aber ich war irgendwie zu jung, zu unerfahren. Es hat mich nicht an einem guten Punkt meines Lebens erwischt.
Das war auch nicht, dass man irgendwie 50 ist, wenn die Eltern dement werden, nicht 28. Ja, und gerade in meiner Generation ist das auch eher selten, dass ein Vater erst mit 40 Kinder bekommt. Heute ist das häufiger. Also, es gab in meinem ganzen Umfeld eben auch nichts Vergleichbares. Das war einfach kein Thema, nirgends. Da die Eltern jung waren, die sind schiefgegangen oder wandern, oder die waren noch berufstätig teilweise. Also insofern kann man ja schon sagen, dass sie dann auch Pionierarbeit geleistet haben mit diesem Buch.
Ein bisschen auf der erzählerischen Ebene, und ich glaube eben an die Kraft des Erzählens. Wenn Sie jetzt so auf das Buch schauen, so in Ihrem – also sie haben ja sehr viele Bücher schon geschrieben – wie ist Ihr Verhältnis zu diesem Buch? Das Buch ist ein Geschenk, das ich mir selber gemacht habe im Nachhinein, weil der Papa ist mittlerweile tot, und es hält so vieles fest. Es ist ja auch so, es ist ja nicht nur die kranke Person in dem Buch drin; es erzählt ja auch die Geschichte seiner Kindheit und seiner Ehe.
Auch biografische Aspekte sind enthalten. Genau. Also fand ich auch schön, dass das Teil dieses Buches sein durfte. Musste in meinen Augen, weil das eben eine Person ist, die zum Zeitpunkt, als ich schreibe, ein 80-jähriges Leben hinter sich hat. Und dieses Leben ist in der Person drin. Das ist ganz wichtig, um ihn ernst zu nehmen als August Geiger, 80 Jahre alt, mit vielem, was er hinter sich hat und erlebt hat. Ja, genau. Ja. Und im ersten Moment hat man mir das Buch weggenommen – das sage ich jetzt unter Anführungszeichen. Das war so erfolgreich, was weiß ich, es ist in 30, 40 Sprachen übersetzt. Das lesen die Chinesen wie die Türken, und es gibt also in alle wichtigen Sprachen Übersetzungen.
Aber da musste ich im ersten Moment loslassen, und das Thema hat auch ein bisschen das Kunstwerk gekapert, weil ich finde schon auch, dass das Buch literarisch natürlich sehr subtil gemacht ist, formal, sprachlich. Wie mache ich das, damit da am Ende „Der alte König in seinem Exil“ ist? Schon der Titel ist natürlich, wie soll man sagen, eine Besonderheit für sich. Ja, gut. Dann war nur noch das Thema Demenz. Gut, ich fand das nicht nur schön, weil ich mich ja natürlich als Künstler definiere und nicht als Demenzspezialist.
Ja. Und dann irgendwann habe ich das Buch wieder zurückbekommen, und jetzt gehört es wieder ganz mir. Ganz meines. Mir ist es wichtig emotional, weil ich meinen Vater wirklich geliebt habe. Und das ist schön, dass Sie das sagen können. Das freut mich gerade. Menschen weltweit lesen Ihr Buch. Wie sind so die Reaktionen von denen? Also manchmal, dann bin ich zu meiner Frau gegangen, da schau, ich habe einen Brief aus Bremen bekommen, und da steht: „Wir haben das Buch alle gelesen bei uns in der Familie, und bei uns zu Hause wird wieder gelacht.“
Ich habe mir gedacht: Mensch, ich meine, ich schreibe Bücher, Literatur, aber dass ein Buch so unmittelbar in das Leben der Menschen eingreift, dass die sich hinsetzen und mir schreiben und sagen: „Bei uns zu Hause wird wieder gelacht.“ Dann habe ich mir gedacht, das ist vielleicht das Allergrößte, was einem als Schriftsteller passieren kann. Und das habe ich mitgenommen, das denke ich mir immer, wenn ich auch manches falsch gemacht habe im Leben, wie jeder Mensch. Und wie gesagt, ich bedauere auch etliches im Zusammenhang mit meinem Vater, aber dass da in Bremen wieder gelacht wird, das ist doch so großartig, so Einfluss nehmen zu können auf eine positive Art.
Ja, ich muss spontan an Hauke denken, einen Fotografen, der preisgekrönte Reportagen fotografiert hat und unter anderem seinen Vater auch mit der Demenz auf einer Langreise begleitet hat und gesagt hat, er hatte noch nie so eine unmittelbare Wirkung auf irgendwas, was er gemacht hat, wie mit diesem Projekt. Bilder, die waren auch eigentlich erstmal für sich fotografiert, gar nicht unbedingt mit der Absicht, das zu veröffentlichen. Das hat er dann getan, und dann war eben diese umwerfende Resonanz. Genau.
Bei mir war das eben dieser Weg, damit umzugehen, ohne zu verzweifeln, irgendwie etwas Positives mitzunehmen. Und das ist für mich, darüber zu schreiben, davon zu erzählen, weil es mir wichtig schien, fast so, dass ich mir gedacht habe: „Du darfst nicht nicht davon erzählen.“ Also, in der großen Familie, mein Vater hat ja acht Geschwister, alle einen Haufen Kinder, Hundertschaften unmittelbarer Verwandtschaft. Eigentlich gab es das noch so im Tonfall: „Darüber schreibt man nicht.“ Das versteckt man eher. Das ist nichts für die Öffentlichkeit.
Also, es braucht schon ein bisschen Nehmerqualitäten zu sagen: „Ich mache das jetzt.“ Ich glaube, das ist wichtig. Ich sehe keinen Grund, diese Dinge zu verstecken und nicht erzählen zu dürfen. Es heißt, sich nicht zeigen zu dürfen. Es ist etwas, was in der Natur des Menschen vorkommt, eine Erkrankung, und es gibt überhaupt keinen Grund, sich dafür zu schämen oder das zu verstecken oder was auch immer. Es ist Schicksal. Nichts, was wir uns wünschen, aber auch nichts, was nicht hunderttausendfach in der Mitte der Gesellschaft vorkäme.
Inwieweit hat denn Ihr Vater das mitbekommen oder darauf reagieren können auf das Buch und auf die Reaktionen aufs Buch? Also, ich habe ihm das gesagt, dass ich ein Buch schreibe. Meine Erfahrung war, dass er die Dinge momentan verstanden hat und momentan auch Antwort geben konnte. Und da hat er nicht ganz untypisch für ihn gesagt: „Du wirst schon wissen, was du tust.“ Aber das hat er sehr oft zu mir gesagt, und ich habe im Nachhinein verstanden, dass das auch mit Vertrauen zu tun hat.
Also, „Sohn, trag du die Verantwortung dafür, halte du den Kopf hin, aber insgesamt, ich glaube, du wirst schon wissen, was richtig ist.“ Und gut, das dann habe ich mir gedacht, da nehme ich ihn beim Wort. Und als das Buch dann erschienen ist, habe ich die Zeit bei ihm in Wolf verbracht. Also ich bin vor Erscheinen nach Wolf gefahren und war dann zum Erscheinen zwei, drei Wochen bei ihm. Das war herrlich. Klar, die Besprechungen kamen, und die haben sich alle überschlagen. Dann habe ich ihm wieder so eine ganze Seite irgendwo gezeigt, und dann hat er sich das angesehen: „Ja, so was mache ich öfters.“ Und das hat ihm ganz gut gefallen. Aber das Wichtigste war, dass er im Dorf – und für meinen Vater gab es ja nur das Dorf, er war dort Amtsleiter ab dem Alter von 26 bis zur Rente, den kannte jeder und jede – und die sind mit einer völlig anderen Körpersprache auf ihn zugegangen.
Die Befangenheit war plötzlich weg. Die haben ihm auf die Schulter geklopft. Die haben gesagt: „August, ich habe das Buch gelesen, das ist so toll.“ Und er war wieder so selbstbewusst, und er ist richtig aufgeblüht, aber nicht wegen des Buches, sondern wegen der Reaktion der Leute, wie sie ihm begegnen, dass sie ihn loben. Ja, genau. Und jemand, der dement ist, der bekommt wenig Lob und weniger Anerkennung. Und das hat er einfach gespürt, wie die Leute strahlen. Das hat er gesehen. Und davor hat er immer gesagt: „Ich bin nichts mehr. Ich bin nichts mehr.“ Und dann plötzlich hat er dem nachgehorcht und gesagt: „Na, nicht nicht mehr viel, aber schon noch, schon noch.“ Das war schöner. Und da hat sich dann der Kreis geschlossen, auch mit dem, was ich vorhin gesagt habe. Man muss irgendwie für eine Stimmung sorgen im Alltag, die diese Irritationen der Krankheit löst. Ja, irgendwie, wenn gelacht wird, dann ist immer gut, wenn gesungen wird. Also einfach eine Atmosphäre, die die Krankheit für Momente oder auch vielleicht einmal für einen Nachmittag ausmanövriert, also dass nicht die Krankheit tonangebend ist und man immer hinterherhinkt, sondern dass man selber dann wieder tonangebend ist. Und das haben die Reaktionen auf das Buch atmosphärisch auch bewirkt. Hört sich gut an, und das ist so viel drinnen, was wir unter anderem auch in diesem Podcast schon auf so ganz andere Art und Weise besprochen haben, aber das ist jetzt einfach wundervoll, das von Ihnen aus Ihrem Mund und aus Ihrem Erleben und Erfahren zu hören. Sehr gut. Freut mich gerade sehr.
Normalerweise stellen wir jetzt zum Abschluss ja immer die fast schon obligatorische Frage so im Rückblick mit all der Erfahrung von heute und durch den langen Weg: Was würden Sie anders machen? Ja, es ist mein Leben. Ich muss ja sagen, ich nehme mein Leben so an, wie ich es habe. Wenn ich etwas anderes mache, dann ist es ein anderes Leben, und ich bin ein anderer Mensch. Klar würde ich meinen Vater früher in den Arm nehmen, aber er war der, der er war, und ich war der, der ich war, und die Umstände waren nicht danach. Es war wahrscheinlich einfach nicht möglich. Wir mussten da hindurch.
Aber wenn es mir jemand gesagt hätte, ich hätte es schon zugehört. Ja, danke. Danke für das Gespräch. Ja, auch von meiner Seite. Danke fürs Buch. Danke für das Gespräch meinerseits. Ja, und alles Gute. Ja, danke schön. Danke. Zum Abschied für die heutige Folge noch kurz ein paar News von Desideria. Anja, bei euch laufen ja im Herbst wieder neue Kurse zu den Demenz-Buddies. Ja, da möchte ich gerne hinweisen, die Links findet ihr in den Shownotes, aber Anja, erzähl doch mal, worum geht es und was erwartet die Teilnehmenden da?
Ich fand es schön, dass auch in unserem Gespräch mit Arno Geiger das schon angesprochen wurde: ein junges Leben, nicht wahr? Und wenn dann quasi Eltern krank werden, verändert das vielleicht völlig die Richtung, oder man rutscht in eine Situation hinein, die man sich vorher gar nicht ausmalen konnte. Und deswegen haben wir die Demenz-Buddies gegründet. Das ist eine Gruppe, die sich acht Mal trifft, je zwei Stunden. Und ich denke, das Besondere an dieser Gruppe ist, dass sie einen geschützten Raum öffnet, wo junge Menschen zwischen 16 und 26 die Gelegenheit haben, andere Menschen in derselben Situation kennenzulernen, weil dieses Gefühl: „Ich kenne niemanden, dem es so geht“, ist für diese jungen Menschen ganz bestimmend. Und ich glaube, es ist oder so erfahren wir es, ist es tatsächlich eine großartige Gelegenheit, von Peer zu Peer über die eigenen Erfahrungen zu sprechen. Die Gruppe wird angeleitet von zwei erfahrenen Coaches und systemischen Beratern, aber im Mittelpunkt stehen eben Austausch, Vernetzung, ja, und natürlich auch ein bisschen Aufklärung und Input zur Krankheit. Also, los geht es im Oktober, nicht wahr? Aber anmelden könnt ihr euch unbedingt jetzt schon auch, oder die Info natürlich auch gerne an andere Angehörige weitergeben.
Genau. Da würde ich mich sehr freuen. Genau. Und dann war es das mit dieser Folge von „Leben, lieben, pflegen“ mit unserem Gast Arno Geiger. Vielen Dank, dass Sie da waren. Große Freude gemacht. Vielen Dank auch an die Technik, an Valentin Ramm, der uns wie immer zuverlässig unterstützt hat, und ja, dann hören wir uns demnächst bald wieder. Bis dahin, tschüss.