Transkript zur Folge ein Pflegenetzwerk aufbauen
Peggy Elfmann: Pflege alleine zu stemmen ist eine Herkulesaufgabe und es sollte sich immer auf mehrere Schultern verteilen. Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von „Leben, Lieben, Pflegen“, der Desideria Podcast zu Demenz und Familie. Ich bin Peggy Elfmann, Journalistin und Bloggerin auf Alzheimer und wir.
Anja Kälin: Hallo und willkommen. Ich bin Anja Kälin, Familiencoach und Mitgründerin von Desideria Care. Wir begleiten Angehörige von Menschen mit Demenz und bieten Coachings sowie Angehörigentreffen und Schulungen.
Peggy Elfmann: Anja und ich haben ja schon häufiger mal von dem Pflegenetzwerk gesprochen, das habt ihr in unterschiedlichen Folgen gehört. Heute wollen wir uns mal ganz dezidiert über das Pflegenetzwerk austauschen. Wir wollen darüber sprechen, was das eigentlich ist, wer zu so einem Pflegenetzwerk zählen kann und wie ihr euer Pflegenetzwerk aufbauen könnt. Doch bevor wir anfangen, möchten wir noch Dankeschön sagen. Ein großer Dank geht an die Editabland Wagner Stiftung. Sie unterstützt uns finanziell bei der Produktion dieser Folge. Ganz herzlichen Dank.
Peggy Elfmann: Anja, immer wenn ich in Ratgebern über das Pflegenetzwerk gelesen habe, das klingt wie so eine Institution und ich finde das immer ganz schwer, sich vorzustellen, was das tatsächlich bedeutet und was das leistet. Wenn du jetzt Schulungen gibst oder Angehörige berätst und begleitest, was erklärst du denen denn dazu? Warum sollte jeder ein Pflegenetzwerk haben?
Anja Kälin: Ja, das ist eine gute Frage und das ist zum Beispiel auch eine Frage, die meistens in Coachings relativ am Anfang auftaucht, die ich stelle. Ich lasse Angehörige, die einen Menschen mit Demenz begleiten, einfach mal berichten, wer im Pflegenetzwerk denn da ist. Also, das können Ärzte sein, das können der ambulante Pflegedienst sein, das können Freunde sein, das können Familienmitglieder sein. Das arbeiten wir relativ früh schon quasi im Beratungsprozess heraus, einfach damit man schon mal ein Gefühl dafür bekommt, wer die Hauptpflegeperson unterstützt, weil das ist definitiv etwas, was man sagen kann: Pflege alleine zu stemmen ist eine Herkulesaufgabe und es sollte sich immer auf mehrere Schultern verteilen.
Peggy Elfmann: Ich erlebe das so ähnlich, dass mein Papa immer dachte, er möchte das alleine machen oder es ist seine Aufgabe als Ehemann, meine Mama alleine zu begleiten. Und es hat bei uns eine Weile gedauert, bis sich so ein Netzwerk angefangen hat zu bilden beziehungsweise bis auch sichtbar wurde, dass es das eigentlich braucht, also für meine Mama, aber auch für meinen Papa.
Anja Kälin: Ist das etwas ganz Typisches, also, dass dieses Bewusstwerden für die Notwendigkeit tatsächlich mit dem Verlauf der Erkrankung erst steigt?
Peggy Elfmann: Ja, das ist durchaus typisch, würde ich sagen, weil man am Anfang ja so denkt, na ja, also wir kriegen das schon alleine hin. Und ja, letzten Endes ist auch die Familie natürlich etwas, was geschützt werden soll. Also, das heißt, es ist ja zunächst einmal etwas sehr Privates, so eine Diagnose und da ist eventuell am Anfang auch wirklich eine Scheu da, offen darüber zu reden. Und wenn ich mir jetzt zum Beispiel Unterstützung und Hilfe holen will, muss ich natürlich zunächst einmal auch in der Lage sein, diese Krankheit als Teil des aktuellen Familienlebens besprechen zu können, mir bewusst zu machen, anzunehmen und dann erst im nächsten Schritt vielleicht auch Hilfeleistungen abzufragen. Das ist ein Prozess und ich denke, es ist auch ganz normal, dass das am Anfang ein bisschen Zeit braucht. Also, das ist jetzt gar nicht so sehr, dass ich sage, man muss von Runde 1 daran schon arbeiten, aber ich glaube, wenn man es jetzt mal über den ganzen Verlauf der Krankheit und gerade einer demenziellen Veränderung sich anschaut, dann wird es Punkte geben, wo es in bestimmten Bereichen des Alltags immer schwieriger wird, das alleine zu stemmen. Häufig haben auch die Angehörigen das Gefühl, na ja, sie können am besten ihr bisheriges Leben in der Familie oder in der Partnerschaft beurteilen und auch sie kennen den Erkrankten am besten und trauen sich natürlich die beste Pflege oder Fürsorgearbeit zu und stellen vielleicht andere Angebote erstmal in Frage. Also, das ist ja auch eine Frage von Vertrauen, die ich zunächst einmal aufbauen muss zu anderen Partnern im Pflegenetzwerk. Ich denke, es lässt sich am besten erklären am Beispiel des Hausarztes. Der eventuell auch die Diagnose stellt oder zumindest vom Diagnosezentrum auch übermittelt bekommt und der ist zum Beispiel schon Teil des Pflegenetzwerks, weil da ein verlässlicher Partner ist, zu dem ich hingehe, wo ich Fragen, die nach der Diagnose auftauchen, zum Beispiel mit der Medikation oder sowas, wo ich hingehen kann und offen über meine Fragen sprechen kann und dort Unterstützung und Entlastung bekomme, indem ich gute Antworten auf meine Fragen bekomme.
Also, das wäre jetzt so ein ganz einfacher Anfang für ein Pflegenetzwerk.
Anja Kälin: Da sind wir ja schon mittendrin. Wenn du dich so an eure Situation erinnerst, wer hat denn da so zum Pflegenetzwerk gehört? Weil wir haben den Hausarzt gesprochen, das ist natürlich nicht das, was man eigentlich mit Pflege verbindet, sondern Medizin, aber dieses Netzwerk kann ja ganz unterschiedlich gestaltet sein.
Peggy Elfmann: Ja und ich glaube, deswegen ist auch tatsächlich der Begriff erstmal verwirrend, weil gerade am Anfang hat man ja sowieso nicht so das Gefühl, dass es hier um Pflege geht, sondern vielleicht eher um Beratung oder Begleitung oder ja, letzten Endes darum, Wissen zu beschaffen zum Thema Demenz, also sich selber auch Informationen zusammenzusammeln, die wichtig und nützlich sind. Zu deiner Frage, also tatsächlich war es am Anfang so, dass meine Schwester und mein Vater so der engste Kreis war, wo wir angefangen haben zu sprechen. Dann haben wir den Hausarzt hinzugezogen. Dann haben wir so festgestellt, also im Alltag müssen wir bestimmten Menschen ja auch den Hinweis geben, dass sich in unserem Alltag durch die Erkrankung meiner Mutter etwas verändert. Das waren dann Freunde und dann über die Freunde haben wir tatsächlich auch schon erste konkrete Unterstützungsanfragen gestellt. Zum Beispiel meine Mutter war leidenschaftliche Mah-Jongg-Spielerin und hat sich ja alle vier bis sechs Wochen mit ihren Freundinnen getroffen zum Mah-Jongg-Spielen und dann ist es aber für sie plötzlich schwieriger geworden zu diesem Treffen zu kommen, also Termine aufzuschreiben oder auch mit der U-Bahn hinzufahren.
Peggy Elfmann: Und dann war ein Zeitpunkt, wo wir eben diese Freundinnen eingeweiht haben und auch gesagt haben, es wäre schön, wenn sie trotz ihrer Veränderung auch noch Teil dieses Freundeskreises bleiben darf und sie eventuell auch abgeholt wird oder wieder nach Hause gebracht wird. Genauso war es mit ihrem Hobby, dem Schwimmen. Meine Mutter ist zweimal die Woche zum Schwimmen gegangen und auch hier ist es dann irgendwann schwieriger für sie geworden, dort zuverlässig oder ohne Angst zum Schwimmbad hinzufinden. Und dann haben wir letzten Endes auch eine Ehrenamtliche dazugeholt, die meine Mutter begleitet hat und mit ihr auch ins Wasser gegangen ist und sie auf den Hin- und Rückwegen unterstützt hat. Also, das waren dann quasi schon die ersten konkreten Schritte im Aufbau eines Pflegenetzwerks und so hat sich das immer mehr erweitert.
Anja Kälin: Ich weiß nicht, wie ist es denn bei euch?
Peggy Elfmann: Es hat eigentlich ziemlich lange gedauert, bis wir tatsächlich angefangen haben, so ein Netzwerk aufzubauen oder auch Unterstützung von außen anzunehmen, sondern es war echt eigentlich viel in Familie. Mein Papa, der auch lange der Meinung war, er möchte das selber machen und meine Eltern haben relativ wenig nach außen auch kommuniziert. Das hat dann eigentlich erst ein paar Jahre später angefangen und der erste so richtige Netzwerkpartner war eigentlich die Tagespflege, also so eine verlässliche Unterstützung. Das ist eigentlich ganz witzig, weil ich dachte immer, ja, die Mama geht zur Tagespflege und sie ist in der Tagespflege, aber dass die auch noch eine bedeutendere Rolle haben quasi in diesem Netzwerk, ist mir erst so nach einer Weile aufgefallen. Und da meine ich jetzt zum Beispiel, dass wir uns ausgetauscht haben über die Situation, also wie ist gerade das Erkrankungsstadium, was kann die Mama, wie kann man sie auch fördern, dass die von der Tagespflege erzählt haben, was sie da machen und aber auch eben wissen wollten, wie es zu Hause ist oder Tipps gegeben haben für zu Hause. In diesem Sinne habe ich dann irgendwann verstanden, okay, das ist mehr als die Mama geht nur zur Tagespflege, sondern die können uns auch zu Hause oder können den Papa und die Mama in ihrem Alltag ein bisschen mehr unterstützen und sind auch ein guter Ansprechpartner, um Dinge vielleicht zu beurteilen und um Einschätzung zu geben nach dem Motto, funktioniert es gerade oder wo sehen sie ein Problem? Was bräuchte die Mama vielleicht? Also da schon irgendwie viel wichtiger zum Beispiel ehrlich gesagt als jetzt die Hausärztin, weil die natürlich die Mama fast jeden Tag gesehen haben und sie auch gut kennengelernt haben.
Anja Kälin: Da sprichst du meiner Ansicht nach etwas ganz Wichtiges an. Also beispielsweise auch Beratungsstellen können Teil des Pflegenetzwerks sein. Das heißt, sie helfen dem Angehörigen, Impulse oder Anregungen in der Organisation des Alltags zu geben. Also beispielsweise auch, ich erlebe das bei Familien, wo dann eventuell auch jemand mal in der Tagesklinik ist, weil auch dort bekommt man Anregungen, wie man das Pflegenetzwerk noch ausbauen kann. Beispielsweise um nicht-medikamentöse Therapieformen, also Logopädie, Ergotherapie, eventuell Musiktherapie. Also, das sind dann schon letztlich Aktivierungen, Unterstützung und Therapiemaßnahmen und da entwickelt sich dann eben genau über die Zeit so ein sehr dichtes Netzwerk, habe ich das Gefühl, wenn man das für sich auch zulässt. Und ich glaube, das ist die große Hürde, die hast du auch schon angesprochen. Man muss natürlich auch als Angehöriger eine gewisse Offenheit mitbringen und sagen, okay, ich probiere das mal aus und schaue, vielleicht funktioniert es für mich beziehungsweise ist es natürlich auch immer eine Frage, wo bin ich, wo wohne ich und welche Versorgungsstrukturen habe ich vor der Tür.
Peggy Elfmann: Ja, ich glaube, es ist sogar mehr als eine Offenheit, die man mitbringen muss. Man muss sich ganz viel eigentlich selber zusammensuchen und also zum einen recherchieren, was gibt es denn überhaupt und dann auch ausprobieren, was passt denn überhaupt für uns. Du hast angesprochen Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, das gibt's alles irgendwie und alles hat irgendwie eine gute Berechtigung, aber es passt ja nicht immer alles für jeden. Da ist schon auch viel Eigeninitiative gefragt und das finde ich manchmal ganz schön schwierig und herausfordernd, gerade weil es einfach emotional ja sowieso schwierig ist.
Anja Kälin: Ja, und für viele Leute ist es tatsächlich überhaupt schwierig, die eigene Haustür zu öffnen, jemanden reinzulassen in diese Situation und da ist zum Beispiel jetzt auch der ambulante Pflegedienst meistens irgendwie so eine ganz herausfordernde Stelle, weil man ja tatsächlich auch dann zugehende Unterstützung im Haus, im eigenen Haushalt, in der eigenen Struktur zulassen muss.
Peggy Elfmann: Ja, zu meiner Mama kommt ja auch der Pflegedienst, auch ganz schön schwieriges Kapitel, ehrlich gesagt, weil ja, es kommt jemand nach Hause und begleitet ja bei den intimsten Dingen. Erlebt so das intime Familienumfeld mit. Das ist schon auch eine große Überwindung. Gerade weil man ja auch, also zumindest die meisten Menschen mit dem normalen Pflegedienst hast du immer wieder verschiedene Menschen, die da kommen und gehen. Da muss man sich eben immer unterschiedlich drauf einstellen. Was so ein bisschen geholfen hat bei uns war, klein anzufangen, dass nicht gleich jemand kommt und zum Duschen, Baden und so hilft, sondern dass sie am Anfang gekommen sind, um zu helfen, die Kompressionsstrümpfe anzuziehen. Das war dann immer so diese Abwägung, na ja, braucht es das wirklich, weil eigentlich kriegt man das auch so hin mit Übung sowieso. Dann haben die aber vom Pflegedienst auch gemeint, na ja, eigentlich fanden sie es ganz gut auch so, um sich daran zu gewöhnen. Und das war mehr dieser Aspekt „gewöhnen“ quasi für meine Mama. Ich habe aber auch gemerkt, dass es schon auch ein Gewöhnungseffekt für meinen Papa ist, überhaupt, dass jemand kommt und zu Hause ist und da quasi mitmischt.
Anja Kälin: Genau. Und gleichzeitig ist es tatsächlich immer wieder interessant, wenn ich nach diesem Pflegenetzwerk frage, auch in den Coachings oder Beratungen, die wir anbieten, dass sehr viele Menschen dann anfangen aufzuzählen, ach und da ist noch der Heinz und da ist noch die Nachbarin und da ist noch die gute Freundin Ingrid und ach ja, das habe ich vergessen. Unser Nachbar mit dem Hund, der kommt auch ab und zu mal vorbei und ach ja, der Bruder, der kümmert sich eigentlich auch ganz rührend. So und dann, wenn man mal drüber reflektiert und wir machen das meistens eben mit so Moderationskarten oder Karten, die so als Mensch geformt sind. Da schreiben wir die Namen drauf und auch den Hintergrund, wie die Person in Beziehung zum Erkrankten beziehungsweise zum Angehörigen steht und dann entwickelt sich dann tatsächlich häufig so ein Netzwerk und da wird quasi auch diesen Angehörigen, die sagen, ich fühle mich so allein, plötzlich sehr bewusst, Mensch, da ist eigentlich schon ganz schön viel und da ist oftmals dann auch so eine Überraschung, wie viel Ressourcen bereits da sind, wie viel genutzt werden und welche man vielleicht auch noch ausbauen könnte, weil das ist dann tatsächlich auch noch mal so ein ganz spannendes Thema, wenn man dann auch noch mit diesen Karten spielt und Nähe und Distanz so ein bisschen legt, also wie so eine Aufstellung, wie eine Familienaufstellung oder überhaupt eine Systemaufstellung, dass man dann sagt, okay, also hier ist der Erkrankte, hier bin ich und dann diese einzelnen Personen, die man definiert hat im Pflegenetzwerk, also die Karten auch so legt, dass quasi die empfundene Nähe oder das empfundene Vertrauen oder die empfundene Bedeutung der Person quasi auch in Nähe und Distanz der Karten sichtbar wird. Und das ist dann teilweise auch noch mal ganz spannend, weil darüber eventuell Ressourcen, die noch nicht so gut genutzt oder erschlossen werden, auch noch mal sichtbar werden, dass man denkt, ach, okay, die Person ist ganz weit weg, warum eigentlich und da könnte ich vielleicht noch viel mehr nachfragen oder auch einfordern oder darum bitten oder es würde total Sinn machen, die Person noch näher ins Netzwerk einzubinden. Ich hoffe, es war jetzt nicht zu kompliziert in der Vorstellung, aber da kann man tatsächlich sehr schön mit arbeiten.
Peggy Elfmann: Das ist vielleicht ein ganz guter Ansatz, den wir unseren Hörern und Hörerinnen mitgeben können. Also, wenn es darum geht, wie ihr euer Pflegenetzwerk ausbauen oder aufbauen oder einfach reflektieren wollt, das aufzuschreiben, wenn ich dich richtig verstehe, Anja, oder?
Anja Kälin: Genau. Und am besten eben nicht eine Liste zu machen, sondern das kann man auch mit Post-its machen, auf jedes Post-it einen Namen schreiben und dann quasi um den Kern Hauptpflegeperson und Mensch mit Demenz dieses Netzwerk mal auf dem Tisch oder auf dem Boden auszubreiten und zu sehen, okay, wer ist nah, wer ist nicht nah und auch noch mal zu überlegen, warum ist der nah oder weniger nah und welche Rolle könnte er spielen, welche spielt er bisher, also das einfach noch mal plastisch zu externalisieren.
Peggy Elfmann: Ich glaube, die Post-its, das ist auch deshalb eine gute Idee, weil das Pflegenetzwerk ist ja nichts Starres oder es ist ja nicht etwas, was ich einmal festlege. Und dann habe ich alle Netzwerkpartner und dann bleibt das so die nächsten hundert Jahre. Sondern es ist ja tatsächlich etwas, was sich sehr entwickelt und was auch im Fluss ist. Und ich habe das bei uns gemerkt, also schon allein bei mir, mal habe ich mehr Kapazitäten und bin viel öfter bei meinen Eltern und mal klappt es eben nicht so gut aufgrund anderer Verpflichtungen und so ist es eben auch mit anderen Partnern einfach. Das ist schon etwas sehr sehr Flexibles und etwas, was irgendwie immer wieder so ein, ja, eigentlich, ich möchte eigentlich gar nicht Nacharbeit sagen, weil es ist ja, es ist einfach ein Fluss.
Anja Kälin: Genau. Und ich glaube, du hast es vorhin auch schon implizit angesprochen. Also, es ist ja auch so, dass ich das je nach Bedarf steuere. Das heißt, ich gucke mir natürlich am Anfang an, was brauche ich und das ist etwas ganz anderes, wie vielleicht ein halbes Jahr später. Und auch im Sinne des Erhalts der Ressourcen des Erkrankten ist es ja total wichtig, nicht irgendwie Pflegeleistungen und oder Entlastungen zur Verfügung zu stellen, die überhaupt noch gar keinen Sinn machen, sondern ich versuche ja immer so lange wie möglich alles zu erhalten und das tue ich nur, indem der Erkrankte möglichst viel von seiner Autonomie und Selbstbestimmung erhält. Also, es macht überhaupt gar keinen Sinn am Anfang schon den ambulanten Pflegedienst zu bestellen und wenn es nur zur Medikamentengabe ist, weil das kann der Erkrankte am Anfang vielleicht noch völlig selbstständig und da wäre es total übertrieben, so etwas gleich in das Pflegenetzwerk aufzunehmen. Also, das heißt, es ist tatsächlich etwas, was sich entwickelt, was sich nach dem Bedarf des Erkrankten entwickelt, aber auch von mir als Angehöriger, wo ich merke, ich komme hier an Grenzen oder eventuell Dinge funktionieren mit mir nicht so gut, wie vielleicht mit jemandem, der von extern kommt. Da ist eventuell auch, also du hast es mal mit dem Zähneputzen irgendwann in dem Podcast beschrieben. Das kann ja an beiden Seiten liegen, dass es nicht so funktioniert. Und dann einfach eben punktuell zu schauen, wo ist es gerade schwierig oder wo ist es eng, wo bräuchten wir vielleicht etwas und dann aber schon sehr aktiv darauf zuzugehen und zu sagen, ja, ich glaube, es macht Sinn, dass wir jetzt mal damit versuchen zu experimentieren. Wenn es nicht funktioniert, kann man vielleicht auch noch mal jemand anderen hinzuziehen oder es ein halbes Jahr später noch mal versuchen. Aber ich glaube, es ist nicht schlecht, wenn man ein grundsätzliches Bewusstsein für dieses Pflegenetzwerk hat, darüber reflektiert und auch noch mal guckt, wen nutze ich, wann, für was, mit wem funktioniert es gut und wo muss ich eventuell auch noch mal etwas austauschen. Also beispielsweise bei uns war das dann so, dass wir mit dem betreuenden Hausarzt meiner Mutter im Pflegeheim nicht so glücklich waren und dann mussten wir da einfach noch mal los und jemanden finden, der uns da besser gefallen hat oder wo wir als Angehörige auch das Gefühl hatten, da funktioniert die Kommunikation besser, das Verständnis füreinander, ja, und auch die Beratung und Begleitung. Also, ich muss mich ja auch auf diese Menschen dann ein Stück weit verlassen können.
Peggy Elfmann: Oder Vertrauen haben. Da spricht du einen wichtigen Punkt an. Wenn dann viele Menschen quasi in diesem Pflegenetzwerk sind, ist es ja eigentlich gut, weil man kann Aufgaben verteilen, aber es kann schon auch herausfordernd werden, finde ich, oder habe ich die Erfahrung gemacht, weil Menschen einfach unterschiedlicher Meinung sind, teilweise, was gut ist. Oder dann eben auch die Frage ist, wer hat denn jetzt tatsächlich die Verantwortung, um Dinge anzuleiern, ob das jetzt Hilfsdienste sind oder was auch immer. Wie geht man denn mit so etwas um?
Anja Kälin: Das ist tatsächlich immer wieder Thema. Wer hat den Hut auf? Zunächst einmal würde ich sagen, klar, der Erkrankte und die Hauptpflegeperson, die beiden müssen ein bisschen schauen, was brauchen sie drumherum. Da muss man natürlich aber auch schauen, gerade wenn man jetzt in der Familie an Unterstützung denkt, wer ist wie in seinem Leben aufgestellt und kann was leisten. Also, ich glaube, das ist zum Beispiel auch noch mal ein Punkt, da kannst du aus Erfahrung sprechen, wenn ich quasi aus der Ferne mitpflege und im Pflegenetzwerk als Unterstützerin, als Tochter da sein möchte, gehen bestimmte Dinge und andere Dinge gehen nicht. Das heißt, das ist dann einfach auch eine Verhandlungssache und man muss die Dinge benennen. Da haben wir ja auch schon mal mit dem Martin Schönacher drüber gesprochen in dem Podcast zur Familienkonferenz beziehungsweise Mediation und es ist aber natürlich auch mit Mitgliedern aus dem Pflegenetzwerk, die nicht zur Familie dazu gehören, so dass ich schauen muss, dass ich die gut an Bord hole, also dass ich schaue, was brauche ich und ich denke da beispielsweise an den Podcast mit der Sophia, die mit ihrer WG sich ein Pflegenetzwerk aufgebaut hat, wo sie ganz klar sagt, ich habe den Hut auf und es muss für mich stimmig sein und ich nehme Angebote an, die mich unterstützen, formuliere aber auch ganz klar Forderungen und Erwartungen und wenn das nicht funktioniert, dann sage ich auch ganz klar: „Nein, brauche ich nicht.“ Und ich glaube, diese Klarheit, die kann schon auch helfen, gerade im Kontakt bei beispielsweise mit Entlastungsangeboten oder unterstützenden Angeboten und das hast du ja auch schon gesagt, wenn die Logotherapie nicht passt, ja, dann passt sie einfach nicht und dann schmeiße ich sie wieder raus.
Peggy Elfmann: Ich habe einen Vortrag gehört, ich glaube Professor Clevers, der den Vergleich gebracht hat mit diesem Dirigenten, der das Orchester quasi hat. Also die ganzen Netzwerkpartner sind das Orchester und der pflegende Angehörige ist der Dirigent, der so ein bisschen nicht dafür zuständig ist, all diese Dinge vielleicht unbedingt auszuführen. Aber einen Überblick zu haben und zu wissen, wer ist eigentlich wann die beste Person in dem Netzwerk.
Anja Kälin: Genau. Und ich glaube, das erfordert aber wiederum auch von dem pflegenden Angehörigen ein klares Selbstbewusstsein zu seiner Rolle und auch zu dem, was er braucht, weil sonst wird es schnell irgendwie zu es wird manchmal auch als schwierig beschrieben, dieses Orchester zu dirigieren, so wie man es braucht.
Peggy Elfmann: Ja, es ist ja auch schwierig. Es ist eine Herausforderung. Ich meine, ich erlebe das einerseits so, dass es sehr entlastend ist auch, wenn Netzwerkpartner eigenständig Dinge tun können und untereinander tun können. Bei uns ist es zum Beispiel so, dass der Pflegedienst das Rezept vom Arzt abholt zur Apotheke bringt, also sich um so etwas kümmert und das ist jetzt irgendwie eine Aufgabe, das finde ich total fein, dass da so ein tatsächliches Zusammenspiel der Partner da ist, die auch wirklich entlastend sein kann.
Anja Kälin: Genau. Ganz wichtig, also das eher zu fördern, dass auch die Partner untereinander kommunizieren und nicht nur immer über die Hauptpflegepersonen koordiniert werden müssen. Also muss man eben auch gucken, kann natürlich auch schwierig werden an gewissen Stellen, aber einfach das mal als Gedanke aufzunehmen und zu sagen, wo macht es denn eventuell auch Sinn, dass die sich untereinander abstimmen oder Telefonnummern vielleicht auch haben oder im Kontakt sind. Das macht schon Sinn.
Peggy Elfmann: Ganz häufig ist ja wahrscheinlich auch, dass der Pflegedienst sich mit dem Hausarzt oder mit der Hausärztin abstimmt oder mit dem Facharzt auch, wenn es um Medikation geht oder um vermutete Nebenwirkungen. Das könnte ich mir vorstellen, dass das sehr vielen pflegenden Angehörigen oder auch Menschen mit Demenz hilft im Alltag.
Anja Kälin: Jetzt haben wir ja auch viel über Familie gesprochen und was rätst du denn Menschen mit Demenz oder auch Angehörigen, wenn da gar keine Familie da ist, wenn da keine anderen Familienmitglieder sind, die eine Aufgabe übernehmen können oder vielleicht auch nicht wollen oder das nicht zulassen? Also, wie kann ich mir denn dann ganz gut ein Netzwerk aus Vertrauten aufbauen?
Anja Kälin: Also, ich gebe dir Recht, die Frage liegt irgendwie auf der Hand gleichzeitig und das ist erstaunlich, habe ich das Gefühl. Manchmal ist es sogar für so Menschen, die ganz alleine sind, fast leichter ein Pflegenetzwerk aufzubauen.
Peggy Elfmann: Wieso das?
Anja Kälin: Ja, das kann ich gar nicht richtig erklären, aber ich staune einfach. Also ich denke jetzt zum Beispiel an eine Frau, die sagt, also ihr Bruder, der leistet überhaupt gar keinen Beitrag und eigentlich sind sonst auch alle Angehörigen nicht mehr da und sie und ihre Mutter und ihr Sohn, das ist irgendwie so etwas Symbiotisches und auch gut Funktionierendes, aber sie hat sich drumherum in meinen Augen ein vorbildliches Netzwerk aufgebaut und das hat sie einfach gemacht. Also es hört sich so ein bisschen einfach an. Ich weiß auch, dass es sehr schwierig ist und sie war auch selber im totalen Erstaunen, als wir ihr Pflegenetzwerk mal durchgesprochen haben und sie gesagt, krass, ich habe ja echt was hier hingestellt und wo ich echt auch gesagt habe, ja, das ist Wahnsinn. Und gleichzeitig ist es machbar, wenn man eben mit dieser Haltung, die wir vorhin besprochen haben, rangeht zu wissen, es ist gut, wenn ich das mache, es ist hilfreich, wenn ich das mache, es ist sinnvoll für mich und den Erkrankten, wenn ich das mache und wenn ich mich frühzeitig drum kümmere und wenn ich auch Hinweisen nachgehe, die ich bekomme, beispielsweise von Ärzten, von Fachstellen, von Pflegestützpunkten, von Ambulantendiensten, also die ist einfach da immer dran geblieben. Sie sagt auch, es ist natürlich ein wahnsinniger Aufwand, Zeitaufwand, auch Energieaufwand und gleichzeitig hat sie es eben über die drei, vier Jahre, wo ihre Mutter jetzt erkrankt ist, tatsächlich hinbekommen und nutzt so das ganze Spektrum auf eine schöne Art und Weise. Also auch Freundinnen von ihr sind beispielsweise eingespannt, nicht nur Freundinnen von der Mutter und die machen das gerne, weil die einen Hund hat und die Freundin, die Mutter auch sowieso kennt, dort in der Nachbarschaft wohnt, sagt: „Ach, dann klingel ich halt bei deiner Mutter und nehm sie mit.“
Anja Kälin: Ich glaube, es ist eher eine Frage des Mutes und der Energie, die man da reinsteckt und auch der Haltung zu sagen, ich traue mich, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Peggy Elfmann: Das finde ich ein total schönes Beispiel und sehr mutmachend. Also, dass es eigentlich gelingen kann und man vielleicht erstmal davon ausgehen sollte. Du hast jetzt schon angesprochen, die Freundinnen von der pflegenden Angehörigen sind auch mit dabei und ich glaube, das ist auch noch ein wichtiges Thema. Geht dann in die Richtung Selbstfürsorge, dass ja nicht nur der Betroffene mit Demenz so ein Netzwerk braucht, sondern auch die pflegenden Angehörigen oder die Hauptpflegepersonen.
Anja Kälin: Ja, davon bin ich überzeugt, dass es eben nicht nur dem Erkrankten selbst zugute kommt, sondern dass es quasi auch ein Akt der Selbstfürsorge ist, weil wenn ich ein gutes Netzwerk habe, dann schaffe ich es vielleicht auch mal in den Urlaub zu fahren. Also, so erinnere ich mich jetzt an eine Familie, die aktuell auch gerade bei mir in der Begleitung ist, wo wirklich die Mutter jetzt für vier Wochen in Urlaub fährt und in diesen vier Wochen wechselnd, also Freunde, Verwandte, Kinder und sogar Nachbarn einspringen, um diesen Urlaub zu ermöglichen. Und also beispielsweise gerade auch bei der Dame, von der ich gerade gesprochen habe, die ist natürlich voll berufstätig, weil sie für sich und ihren Sohn auch sorgt. Die ist darauf angewiesen, dass ihr Pflegenetzwerk funktioniert. Sie arbeitet in Teilzeit und diese Zeiten, dann muss sie die Mutter, die noch alleine lebt, gut versorgt wissen. Und ich denke, es ist auch ganz wichtig, dass wir diese demenzfreien Inseln haben, wo ich ohne das Gefühl, boah, jetzt kann was schiefgehen oder wenn was schiefgeht, werde ich nicht informiert oder ich habe eben nicht dieses engmaschige Netzwerk, dass ich auch informiert werden kann. Das ist, glaube ich, auch wichtig für das eigene Wohlbefinden.
Peggy Elfmann: Was würdest du denn sagen, welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen oder auch Vernetzung mit anderen Angehörigen, weil das ist etwas, ich habe schon einigen Kontakt zu anderen pflegenden Töchtern und ich merke, dass das auch wichtig für mich ist, dass wir uns austauschen. Das ist meistens auch eher informell oder über Social Media oder über irgendwelche privaten Nachrichten, dass wir uns über unsere Situation austauschen und so wissen, okay, es geht anderen so ähnlich oder auch mal einen praktischen Tipp geben oder einfach nur sagen, wie hast du das hingekriegt, da nicht jedes Mal zu heulen? Solche Gespräche finde ich total wichtig für mich.
Anja Kälin: Ja, völlig richtig. Und das kann ich nur unterschreiben. Also ich habe den Eindruck, dass das ein ganz ganz großer Mehrwert ist von Netzwerken oder Austausch mit Gleichbetroffenen, dass man einmal Inspiration bekommt, Ideen, wie machen es denn andere Familien, vielleicht Dinge darüber oder von Dingen hört, auf die man vielleicht selber noch nicht gekommen ist. Und es stärkt einen selber und es nimmt einen aus dieser Isolation raus, aus der gefühlten. Es tut einfach auch gut, von anderen zu hören, denen es vielleicht auch emotional ähnlich geht und die auch bei Aspekten, wo ich mich selber in der Überforderung fühle, ein guter Sparringspartner sind oder den Austausch ermöglichen.
Peggy Elfmann: Ein Beispiel sind ja die Demenz-Buddys von Desideria, das wäre auch so ein Netzwerk für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Anja Kälin: Ja, tatsächlich. Und diese Gruppe von jungen Pflegenden, die hat sich auch aktuell erst in einem Live-Treffen in der Nähe vom Ammersee oder zwischen Ammersee und Starnberger See getroffen und da war es eben auch toll zu sehen, wie sich so eine Gruppe trägt und stärkt. Und genau deswegen möchte ich auch gerne darauf hinweisen, dass der nächste Demenz-Buddys Kurs am 11. Oktober beginnt. Das sind acht Treffen, die online stattfinden. Wöchentlicher Turnus à zwei Stunden und da sind noch Plätze frei und ich würde mich sehr freuen, wenn dieses Angebot gerade für junge Pflegende zwischen 16 und 26 Jahren weiterempfohlen wird. Die Infos und Anmeldemöglichkeiten findet ihr auch alle in den Shownotes und gerne weitergeben an Menschen, von denen ihr denkt, dass es ihnen helfen kann.
Peggy Elfmann: Genau, die Demenz-Buddys, das ist ein Kurs von Desideria, an dem man kostenlos teilnehmen kann. Und genauso gibt es auch für andere Unterstützungsmöglichkeiten die Möglichkeit, das über die Krankenkasse finanzieren zu lassen. Also ihr könnt euch zum Beispiel Ehrenamtliche über Entlastungsleistungen suchen und das Geld dafür nutzen oder natürlich auch Tagespflege oder Pflegedienst.
Anja Kälin: Genau. Und damit gehe ich noch mal ein auf diesen Aspekt. Also letzten Endes auch hier gibt es gute leistungserschließende Beratung, also beispielsweise von der Alzheimergesellschaft, Pflegestützpunkte und Fachstellen, pflegende Angehörige und Demenz. Hier kriegt man sehr guten Überblick, welche Unterstützungsmöglichkeiten wie finanziert werden können. Und ich denke, das ist auch ein wichtiger Aspekt, den man im Hinterkopf behalten muss, wenn man ans Pflegenetzwerk denkt, dass es natürlich finanziert werden muss und dass es da aber gute Beratungsleistung zu gibt.
Peggy Elfmann: Die Adressen setzen wir euch auch in die Shownotes, dann könnt ihr euch für eine Beratungsmöglichkeit suchen.
Anja Kälin: Genau. Dann lass es mal so stehen für heute und ja, wünschen euch eine gute Zeit. Bis zum nächsten Podcast. Bis dahin.
Peggy Elfmann: Vielen Dank noch an den Valentin Rahmann in der Technik und bis zum nächsten Mal. Tschüss.
Anja Kälin: Tschüss.