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Transkript zur Folge Young Carer

Peggy Elfmann: Lange Zeit habe ich viel Mitleid erfahren, weil man mich als Kind mit dem kranken Vater sah. Es gab viel peinliche Berührtheit und Unsicherheit im Umgang mit der Situation, was es für mich als Kind noch viel schlimmer machte. Wenn andere sagten, es sei komisch, dann war es in meiner Wahrnehmung sicher wirklich komisch. Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Leben, lieben, pflegen, dem Podcast zur Demenz und Familie. Ich bin Peggy Elfmann, Journalistin und Bloggerin auf Alzheimer und wir.


Anja Kälin: Hallo und willkommen. Ich bin Anja Kälin, Familiencoach und Mitgründerin von Desideria Care. Wir begleiten Angehörige von Menschen mit Demenz. Heute haben wir einen Gast eingeladen. Wir freuen uns sehr, dass sie bei uns sein kann. Willkommen, liebe Sofia. Das Thema der heutigen Folge ist Young Carers. Es geht um die jüngeren Angehörigen von Menschen mit Demenz. Über die Herausforderungen und Helfestrategien wollen wir mit Sofia sprechen. Doch bevor wir anfangen, möchten wir noch Danke sagen. Vielen Dank an die Edit Haberland Wagner Stiftung. Sie unterstützt uns finanziell bei der Produktion dieser Folge. Ganz herzlichen Dank.


Peggy Elfmann: Sofia, schön, dass du da bist und den Weg nach München geschafft hast. Magst du dich kurz vorstellen und sagen, wer du bist und wen du pflegst und betreust?


Sofia: Hallo und danke, dass ich da sein darf. Ich bin Sofia. Ich bin 24 Jahre alt und ich bin pflegende Angehörige meines Vaters. Mein Vater ist dementiell verändert. Wir leben gemeinsam in einer inklusiven Wohngemeinschaft und gestalten so gemeinsam den Alltag.


Peggy Elfmann: Nimm uns ein bisschen mit in deinen oder euren Alltag. Wie sieht dein Alltag mit deinem Vater aus? Was bedeutet eine inklusive Wohngemeinschaft, oder wie pflegst du ihn?


Sofia: Unser gemeinsamer Alltag sieht so aus, dass wir in einem Haus gemeinsam wohnen. Meine Oma ist ebenfalls stark in diese Betreuungsstruktur eingebunden. Mein Vater steht morgens auf und geht dann zur Oma, die in derselben Straße wohnt, und bekommt dort Frühstück. Mittlerweile fährt er viermal in der Woche in eine Tagesstruktur. An den Nachmittagen der anderen Tage und an allen Abenden ist er bei uns im Haus, wo wir dann gemeinsam Musik hören oder spazieren gehen, gemeinsam kochen und essen. Wenn er Unterstützung benötigt, bekommt er diese in erster Linie von mir, aber auch von unseren anderen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern. Im Moment haben wir zwei weitere Mitbewohnerinnen und Mitbewohner, und mein Partner lebt auch bei uns.


Peggy Elfmann: Wie ist diese inklusive Demenz-WG eigentlich entstanden? Was war die Motivation dahinter?


Sofia: Die Ausgangslage war die, dass mein Vater in einem sehr schönen großen Haus gewohnt hat, in dem ich als Kind auch gelebt habe. Ich bin dort ausgezogen, als sich meine Eltern getrennt haben. Nach meinem Schulabschluss und Freiwilligendienst bin ich dort wieder eingezogen, weil viel Platz vorhanden war und ich nahe bei meinem Vater sein wollte. Ich habe gemerkt, dass dieses Haus für mich und ihn sehr groß ist. Nach einiger Zeit habe ich mit dem Studium begonnen und bei meinen Mitstudierenden und Freundinnen gesehen, dass viele in Wohngemeinschaften wohnen. Da dachte ich, wir haben Platz, und ich mag Menschen sehr gerne. Ich bin sehr extrovertiert, und mein Vater ist es auch. Dann ist eine Freundin von mir zu uns gezogen, primär zu mir. Damals war mein Vater noch etwas selbstständiger und weniger stark eingebunden. Dieses Haus besteht eigentlich aus zwei zusammengebauten Häusern, sodass eine räumliche Trennung gut möglich ist. Ungefähr ein Jahr später ist noch eine zweite Freundin von mir eingezogen, die ebenfalls noch bei uns wohnt. Die Wohngemeinschaft ist dann inklusiver geworden, da wir noch viel mehr gemeinsam gemacht haben und mein Vater sehr viel Zeit mit uns verbringt und dies auch sehr gerne tut.


Peggy Elfmann: Wie lange wohnt ihr schon zusammen in diesem Konstrukt oder in dieser Form?


Sofia: Ich bin 2017 eingezogen. 2018 war die Geburtsstunde der Wohngemeinschaft, damals noch mit meinem Partner, der dann nach Australien ging. Die Freundin von mir brauchte lange, bis sie wirklich einzog; das war im August 2019. Im ersten Corona-Lockdown im April 2020 bekamen wir dann die zweite Mitbewohnerin dazu, und im folgenden Herbst zog ein weiterer Mitbewohner ein.


Peggy Elfmann: Welche Rolle spielen die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner in der Pflege deines Vaters?


Sofia: Es ist einfach wichtig, dass jemand zu Hause ist, wenn mein Vater zum Beispiel den Fernseher nicht einschalten kann oder sich gerade nicht auskennt. Falls etwas passiert, ist jemand da. Unsere Mitbewohnerinnen und Mitbewohner geben ihm abends oft die Medikamente, wenn sie zu Hause sind und ich nicht. Wenn er noch etwas zum Essen möchte, bekommt er es von ihnen. Sie sitzen auch gemeinsam in der Küche. Die hauptsächliche Pflege und Unterstützung leiste ich, wenn ich zu Hause bin. Für die Körperhygiene haben wir eine Pflegerin, die einmal am Tag kommt. Aber auch für das Miteinander und die Ansprache, zum Beispiel wenn wir abends draußen am Lagerfeuer sitzen und mein Vater müde wird und reingeht, dann helfen ihm meistens entweder ich oder jemand von den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern.


Anja Kälin: Ihr teilt das schon ein bisschen, aber die Hauptverantwortung trägt...


Sofia: Genau, die Hauptverantwortung trage ich. Es ist auch mein Vater. Ich sehe mich als das Oberhaupt dieser Wohngemeinschaft, denn ich glaube, es ist wichtig, dass es in solchen Strukturen vereinbarte Strukturen gibt, nicht unbedingt Hierarchien, aber klar definierte Abläufe, damit man weiß, woran man ist und was zu tun ist.


Anja Kälin: Das bedeutet, Regeln und Absprachen sind wichtig, und es muss klar sein, wer die Hauptverantwortung trägt, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen. Alle haben ein Mitspracherecht.


Sofia: Wir achten darauf, Kompromisse zu finden, die für alle passen. Letztlich ist es aber so, dass ich dort nicht ausziehen kann. Deshalb muss es für mich wirklich stimmig sein.


Anja Kälin: Das gilt unabhängig davon, ob man in einer inklusiven Wohngemeinschaft oder in einer "normalen" Wohngemeinschaft lebt. Manchmal passt es nicht mehr.


Sofia: Und dann sucht man sich etwas Neues. Wenn es für mich nicht mehr passt, kann ich mir nichts Neues suchen. Das gilt natürlich auch für meinen Vater. Wenn es für ihn nicht mehr passen würde, müssten wir die Zusammensetzung der Mitbewohnerinnen und Mitbewohner ändern.


Peggy Elfmann: Entscheidungen treffen, das ist klar. Aber das ist schon sehr viel Verantwortung, als 24-Jährige für deinen Vater, für dich selbst und auch für den Rest des WG-Lebens zuständig zu sein.


Sofia: In vielen Situationen denke ich, dass ich nicht das klassische Leben einer 24-Jährigen führe. Das hat jedoch mehr mit der Pflege und meinem Beziehungsstatus zu tun als mit der Wohngemeinschaft. Ich glaube, die Wohngemeinschaft bringt sogar eher eine Ebene mit sich, die besser zu meinem biologischen Alter passt als der Rest.
Genau, das ist auch der Kompromiss. Mir ist es wichtig, in einer Wohngemeinschaft zu wohnen, weil ich gerne mit Menschen zusammenlebe. Wenn das für meinen Vater nicht möglich wäre, dann wäre das in Ordnung, aber ich glaube, dann würde ich auch nicht dort wohnen.


Anja Kälin: Das heißt, du verwirklichst damit eigentlich einen Traum oder die Vorstellung, wie du als Studentin leben möchtest. Du wohnst in einer WG, aber eben in einer WG mit deinem Vater, und hast das letztlich so gestaltet, dass es für alle ein einigermaßen stimmiges Konzept ist.


Sofia: Ich bin nicht nur für ihn, sondern auch für mich und meine Bedürfnisse verantwortlich, und dafür, dass es mir gut geht. Denn nur wenn es mir gut geht, kann ich auch für ihn da sein. Wenn es mir nicht gut geht, wird es schwierig.


Anja Kälin: Da sprichst du etwas sehr Wichtiges an, was ich glaube, für alle Kontexte gilt, in denen Pflege und Begleitung eine Rolle spielen. Das Ziel ist natürlich wichtig, dass es dem Erkrankten oder Betroffenen gut geht, aber letztendlich muss auch das Umfeld dafür sorgen, dass die eigenen Bedürfnisse Berücksichtigung finden.


Peggy Elfmann: Wir haben in der Folge zur Selbstfürsorge darüber gesprochen. Das ist natürlich etwas, was einem erst in der Reflexion auffällt und vielen schwerfällt zu erkennen, besonders wenn sie im Pflegealltag stecken und den täglichen Herausforderungen begegnen. Wenn du deinen Alltag anschaust, wo liegen die großen Herausforderungen? Wo sind die Momente, in denen du in der Pflege an deine Grenzen kommst?


Sofia: Ich komme an meine Grenzen, wenn zu stark an diesem Konstrukt gerüttelt wird, was mit Corona definitiv passiert ist. Das hatte weitreichende Auswirkungen auf viele Menschen in unserer Gesellschaft und natürlich auch auf uns. Herausfordernd ist es, wenn meine Oma krankheitsbedingt ausfällt oder ich krankheitsbedingt ausfalle. Ich habe einen Studienwechsel hinter mir, der emotional sehr anstrengend und schwierig war, weil sich mein Leben dadurch stark verändert hat und die Wahrnehmung meiner Familie von mir plötzlich eine andere war als meine eigene, besonders in beruflicher Hinsicht. Man darf in dieser Situation nicht vergessen, dass mein Vater immer noch mein Vater ist und man mit Eltern immer wieder an schwierige Punkte kommt. In vielen Situationen haben wir ein total umgedrehtes Verhältnis, weil ich ihm dann sage, das dritte Stück Kuchen heben wir für später auf, oder: "Ich glaube, du solltest dir eine Mütze aufsetzen, weil es schon kalt draußen ist. Ich hole dir noch Socken." Es gibt Situationen, in denen mein Vater gerne noch Verantwortung für mich übernehmen oder mir sagen möchte, was Sache ist. In den meisten Fällen kann ich damit gut umgehen, weil ich weiß, woher es kommt und es eine Art ist, seine Zuneigung auszudrücken. Manchmal kann ich das jedoch nicht so gut aufnehmen. Ich glaube, das Schwierigste an unserer Situation ist die Wechselwirkung zwischen ihm und mir. Wenn es ihm nicht gut geht, wirkt sich das auf mich aus, und wenn es mir nicht gut geht, wirkt sich das auf ihn aus. Wenn wir aus dieser Negativspirale "mir geht es nicht gut, ihm geht es nicht gut" nicht herauskommen, kann es kritisch, sehr anstrengend und schwierig werden.
 

Anja Kälin: Du sprichst da etwas an, was in diesem engen Kontakt häufig passiert, nämlich dass sich eine solche Dynamik entwickelt. Welche Strategien hast du für dich entwickelt, um daraus wieder herauszukommen? So wie du darüber sprichst, bist du bereits sehr reflektiert, und durch deine Erfahrung hast du Wege gefunden, damit umzugehen. Ich denke, es ist sehr interessant für unsere Hörerinnen, deine Sichtweise dazu zu erfahren.
 

Sofia: Aus einer Situation auszusteigen hilft mir tatsächlich im physischen Sinne: Wenn die Situation zu aufgeladen ist, gehe ich einfach raus.


Peggy Elfmann: Du gehst in den Garten.
 

Sofia: Frische Luft ist immer besonders gut, aber es bedeutet tatsächlich, die räumliche Situation zu verlassen. Manchmal spielt uns die Demenz dabei auch total in die Karten, weil ich zum Beispiel sage: Wir streiten uns in der Küche. Ich gehe aus der Küche, mein Vater verlässt die Küche. Zehn Minuten später komme ich zurück in die Küche, fünf Minuten später kommt er zurück, und die Stimmung ist komplett anders, weil er vergessen hat, dass wir uns gestritten haben. Er gibt mir quasi noch einmal die Chance, neutral und liebevoll aufeinander zuzugehen. Es hilft auch, jemand anderen einzuschicken, also meinen Partner, oder wir rufen meine Schwester über das Internet an, oder jemand von unseren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern kümmert sich um ihn. Das Zweite ist Reflexion. Es ist mir sehr wichtig, darüber zu reden, was passiert, zu sehen, welche Muster und Familienstrukturen zum Vorschein kommen und welche Verhaltensweisen von mir dabei auftreten. Das ist auch eine Funktion unserer Mitbewohnerinnen und Mitbewohner, weil sie eine nahe Perspektive haben. Sie kennen mich sehr gut, sie kennen ihn sehr gut, sie sehen die Interaktion. Wir können uns gegenseitig unsere Perspektiven erzählen. Ich kann hier in erster Linie von mir sprechen, aber ich glaube, wir lernen sehr viel voneinander und von der Situation. Mit meinem Partner geht das natürlich auch, aber mit ihm habe ich zusätzlich noch die romantische Beziehungsebene. Mir ist es wichtig, nicht alles, was man braucht, von einer Person zu verlangen. Man kann nicht immer alles geben, und das ein bisschen aufzuteilen, ein bisschen auszulagern, schafft Raum für schöne Momente, die man auf einer Beziehungsebene auch braucht, ohne die ganze Pflegesituation ringsherum. Ich bin zwar hauptverantwortlich, aber ich bin nicht allein verantwortlich, auch nicht für meinen Vater. Wir sind eine ganze Familie, wir sind eine Wohngemeinschaft, wir haben noch die Tagesstruktur, wir haben einen ehrenamtlichen Menschen, der mit meinem Vater spazieren geht und quasi eine freundschaftliche Rolle für ihn übernimmt. Ich glaube, das ist das A und O in einer Betreuungssituation für alle, auch für ihn. Es wäre für ihn auch total langweilig, immer nur mein Gesicht zu sehen.


Anja Kälin: Wir sind uns da ähnlich. Er braucht auch viel Umgang mit Menschen.
Glaubst du, dass das spezifisch für junge pflegende Angehörige ist, oder tut es grundsätzlich allen gut?


Sofia: Ich glaube, es tut allen gut. Als ich mich das erste Mal mit anderen Young Carers austauschen konnte, merkte ich im Nachhinein, wie mir eine riesengroße Last abfiel, weil ich zum ersten Mal Gleichaltrige hatte, die Ähnliches oder ganz andere Dinge erlebt hatten, aber trotzdem in diesem Kontext waren. Ich glaube, Austausch ist grundsätzlich ein menschliches Verlangen und Bedürfnis. Aber in dieser Zeit, in der man sich selbst findet, über die Gesellschaft lernt und seinen Platz sucht, ist es wahrscheinlich noch wichtiger, ähnliche Perspektiven zu sehen.


Peggy Elfmann Deine Pflegeerfahrung mit deinem Vater hat relativ früh begonnen. Hattest du damals schon Menschen, mit denen du sprechen konntest?


Sofia: Ich hatte lange Zeit keinen Austausch. Ich habe eigentlich immer sehr offen darüber gesprochen. Lange Zeit habe ich viel Mitleid bekommen, weil man mich als Kind mit dem kranken Vater sah. Es gab viel peinliche Berührtheit und Unsicherheit im Umgang mit der Situation, was es für mich als Kind noch viel schlimmer machte, denn wenn die anderen sagten, es sei komisch, dann war es in meiner Wahrnehmung sicher wirklich komisch. 2020 habe ich begonnen, im Internet über meine Erfahrungen zu berichten, und bin dadurch in diese Netzwerke und Strukturen gekommen. Im Juni 2021 durfte ich dann an einem Young Carers Treffen in Zürich in der Schweiz teilnehmen und dort zum ersten Mal wirklich andere kennenlernen. Ich hätte mir das als Kind wahnsinnig gewünscht.


Es ist spannend, denn wenn ich jetzt mit Freundinnen rede, kommt oft zur Sprache: "Meine Mutter hat chronische Depressionen." oder "Meine Mutter hat eigentlich eine Borderline-Störung." Sehr viele Menschen, auch in meinem Alter, sind davon betroffen, dass ihre Eltern krank sind oder nicht so funktionieren, wie die Gesellschaft es von ihnen erwartet. Ich treffe immer wieder Menschen, die sich mir gegenüber sehr stark öffnen, nachdem ich erwähnt habe, dass ich mit meinem dementiell veränderten Vater zusammenwohne. Wenn ich das nicht sage, sind es dieselben Menschen, die nur peinlich berührt darüber sprechen.


Anja Kälin: Mein Eindruck oder was man über diese Zielgruppe der jungen Pflegenden liest, ist, dass das Bewusstsein dafür, als junger Pflegender in einer sehr besonderen Situation zu sein, nur sehr langsam entsteht. Für die Betroffenen selbst ist es oft ganz normal. Wir haben uns einmal darüber unterhalten, Peggy: Ich hätte mich in der Betreuung meiner Mutter aus der Erwachsenenperspektive lange nicht als pflegende Angehörige gesehen. Ich fühlte mich überhaupt nicht angesprochen, wenn es entsprechende Angebote gab. Ich kann mir vorstellen, dass bei diesen jungen Menschen dieses Bewusstsein überhaupt nicht vorhanden ist, dass dies etwas Besonderes oder Außergewöhnliches ist, oder dass man eventuell ein Recht oder einen Anspruch auf Unterstützung hätte.


Sofia: Ich habe den Begriff "pflegende Angehörige" erst kennengelernt, nachdem ich meine Bloggertätigkeit begonnen habe. Am Anfang habe ich ihn abgelehnt, weil ich sagte, ich pflege in dem Sinne nicht, ich betreue nur. Mittlerweile habe ich mich damit angefreundet, weil es das ist, was das Umfeld und die Menschen am ehesten verstehen.
Das Wort "Young Carers" ist ein Anglizismus, aber es gibt zumindest ein Wort dafür. Es ist jedoch überhaupt nicht in unserem Sprachgebrauch verankert. Ich habe drei Jahre Lehramt studiert und bin nie auf etwas Derartiges gestoßen, was ich als großen Kritikpunkt sehe, weil doch viele Kinder und Jugendliche betroffen sind. Ich habe mich einerseits total alleine gefühlt und hatte andererseits das Gefühl, ich sollte nicht darüber sprechen, weil die anderen Menschen nicht wissen würden, wie sie darauf reagieren sollen.


Peggy Elfmann: Letztlich bist du also geprägt durch die Reaktionen, die du schon bekommen hast, eben diese betretene, komische Situation, und dann vermeidet man wahrscheinlich, darüber zu sprechen.
Waren die Betroffenen eher Gleichaltrige? Also Kinder, die nicht wussten, wie sie damit umgehen sollen oder was das tatsächlich bedeutet? Oder sind zum Beispiel Lehrer eher mit Rücksicht auf dich zugegangen oder haben gesagt, du hast Belastungen und musst die Arbeit eventuell erst eine Woche später abgeben oder Ähnliches?


Sofia: Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke: Meine Klassenkameradinnen hatten Momente, in denen sie mich nicht ablehnten, aber doch blöde Kommentare und Bemerkungen wegen meines Vaters machten. Bei den Lehrerinnen war es recht unterschiedlich. Ich hatte welche, die extrem auf mich eingingen, aber nicht nur wegen meiner Pflegesituation, sondern weil ich sehr jung eingeschult wurde und viel zusätzliche Unterstützung benötigte. Ich hatte Gott sei Dank einen Lehrer, der mir viel Extra-Unterstützung gab. Ich habe jahrelang in den ersten Schulstufen keine Hausaufgaben gemacht. Wenn es mir zu viel wurde, durfte ich mich auch mal raussetzen oder hinten hinsetzen. Wenn ich Dinge nicht fertig gemacht und abgegeben hatte, war das immer noch in Ordnung. Das hat meiner schulischen Laufbahn gar nicht geschadet. Ich musste nie eine Klasse wiederholen und konnte meine Schule ganz normal abschließen, Gott sei Dank.


Peggy Elfmann: Wenn du das jetzt aus heutiger Sicht siehst, gibt es etwas, das du dir gewünscht hättest?


Sofia: Ich hätte mir gewünscht, dass ein Erwachsener zu mir kommt und mit mir darüber spricht, was passiert, welche möglichen Zukunftsaussichten bestehen und mir überhaupt erst einmal nahelegt, dass dies eine Situation ist, die vielleicht mehr Aufmerksamkeit benötigt. Ich habe mich jahrelang auch sehr schlecht gefühlt, weil ich einerseits diesen Freiraum in der Schule bekam, keine Hausaufgaben machen zu müssen, mehr Zeit für Dinge zu haben und manchmal eine zusätzliche liebevolle Aufmerksamkeit erhielt, was sehr gut war. Aber es gab natürlich auch den Punkt, an dem ich dachte: "Warum? Bin ich dümmer als die anderen? Warum brauche ich so viel extra?" Ich war nicht das einzige Kind in unserer Klasse mit einem chronisch kranken Elternteil, aber ich war das Kind, bei dem das am meisten thematisiert wurde und das größte Thema war, auch innerhalb der Familie, weil es meine Kindheit sehr dominierte.


Peggy Elfmann: Wie war es für dich, dass die Krankheit deines Vaters so ein Thema in der Familie war? Nicht nur die Krankheit, sondern es gab auch innerfamiliäre Schwierigkeiten, die sich nicht nur dadurch, sondern insgesamt entwickelt haben.
 

Sofia: Für mich war es sehr wichtig, dass ich mit 16 Jahren ins Ausland gehen durfte. Ich war fünf Monate in Irland und habe dort niemandem erzählt, dass mein Vater krank ist. So konnte ich mir zum ersten Mal eine Identität aufbauen, die komplett davon losgelöst war. Das war sehr wichtig für mich, weil ich beim Wiederkommen diese neue Identität und mein altes Ich wieder zusammenführen konnte und mich nicht nur über die Rolle des Kindes eines chronisch kranken Vaters definierte. Ich bin zwar das Kind, aber ich bin noch viel mehr. Es war ein langer und wichtiger Prozess, der auch noch nicht abgeschlossen ist, denn Prozesse sind nie abgeschlossen, aber es war sehr wichtig.


Anja Kälin: Wir haben gelesen und uns informiert. Es wird beispielsweise gesagt, dass in dieser teilweise sehr schweren und belastenden Situation auch viel Positives steckt. Das bedeutet beispielsweise, dass die Verantwortung einen wachsen lässt und man Dinge mit anderen Augen betrachtet und sehr viel mehr über das Leben begreift und sieht. Würdest du das für dich auch so unterschreiben?


Sofia: Ich denke schon. Gleichzeitig kann ich das nicht so gut beurteilen, weil ich nur die Vergangenheit kenne. Aber ich habe viel mitnehmen können, und es hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin, und ich mag diesen Menschen sehr gerne.


Peggy Elfmann: Gibt es eine spezielle Sache, wo du sagst, das habe ich durch die Krankheit deines Vaters gelernt?
 

Sofia: Ich glaube, dass es nicht nur eine Wirklichkeit gibt, sondern dass wir alle in unterschiedlichen Realitäten und Wirklichkeiten leben. Das erkennt man zum Beispiel daran, dass er mich immer wieder fragt, wie es in der Schule war, obwohl ich schon lange nicht mehr zur Schule gehe. Was ich von ihm gelernt habe – ich weiß nicht, wie sehr das von seiner Krankheit oder seiner dementiellen Veränderung abhängt – ist, die kleinen Momente im Leben wirklich und absolut zu genießen und wertzuschätzen. Wir gehen fast jeden Tag spazieren. Es gibt zwei Stellen, an denen wir immer stehen bleiben und hinaufschauen müssen, weil dort ein Berg mit einer Kirche ist. Das ist zwar schön, aber für meinen Vater ist es nicht nur schön, sondern unglaublich schön, wie er dort steht, diese unglaubliche Schönheit wahrnimmt, in sich aufsaugt und die ganze Straße voller Dankbarkeit ausstrahlt, weil er diesen Moment, diesen Anblick, so wertschätzen kann. Das fasziniert mich sehr, und ich habe versucht, mir das anzueignen, was mir bis zu einem gewissen Grad auch gelungen ist: mich einfach über das Blau des Himmels zu freuen, weil es einfach schön ist.


Peggy Elfmann: Das bewundere ich wirklich auch an deinem Kanal auf Instagram. Ich finde, genau das kommt so wahnsinnig gut rüber, wenn man dir folgt und das, was du über dein Leben teilst, sehr feinfühlig wahrnimmt. Das ist für mich sehr wahrnehmbar, und deswegen mag ich die Geschichte, die du hier gerade mit uns teilst. Super.


Anja Kälin: Fehlt dir der Spaziergang jetzt? Wenn du nicht da bist und weißt, er erlebt es heute vielleicht ohne dich, ist das in Ordnung, oder?


Sofia: Das freut mich. Ich bin sehr froh darüber.
Wenn er es ohne mich nicht erleben würde, würde mich das sehr unter Druck setzen.
 

Peggy Elfmann: Was mich noch interessieren würde, wenn du dich traust, ein wenig in die Zukunft zu denken: Gibt es da einen Wunsch?


Sofia: Der Wunsch ist, dass alles gut wird. Die Zukunft ist ein schwieriges Pflaster, weil ich gerade in einer Situation bin, in der ich merke, dass dieses Haus nicht der Ort ist, an dem ich mich immer sehe. Es fällt mir schwer, das auszusprechen, auch weil ich mittlerweile das Gefühl habe, eine öffentliche Verantwortung zu haben, diese Rolle weiterzutragen. Ich weiß aber auch, dass dies nur bis zu einem gewissen Teil stimmt. Natürlich habe ich eine Verantwortung meinem Vater gegenüber, aber niemandem sonst außer dem Rest meiner Familie. Ich weiß auch, dass wenn ich die Entscheidung treffe, dort auszuziehen, weil ich mein Leben so leben möchte, wie ich es mir wünsche, dann gibt es einen Menschen, der das zu 100 % unterstützen wird, und das ist mein Vater. Darüber bin ich froh, das zu wissen. Natürlich ist er traurig, wenn ich ihm erzähle, dass ich nach Australien fahren möchte, dann ist das nicht sein Lieblingsthema. Aber ich weiß auch, dass das, was ihn ausmacht, und was der Kern von ihm vor seiner Krankheit und auch in seiner Krankheit ist, eine bedingungslose Liebe ist, die ein Elternteil im Idealfall seinem Kind entgegenbringt. Das bedeutet auch, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffen darf und diese unsere Verbindung nicht abreißen lassen.


Anja Kälin: Das ist auch ein schwerer Prozess, oder? Der Gedanke, sich zu lösen und nach vorne zu schauen, und in deinem Fall ist Australien noch einmal sehr weit weg. Ich habe oft ein schlechtes Gewissen oder denke, darf ich das überhaupt, und es sind nur 400 km. Australien ist dann natürlich eine ganz andere Nummer. Ich weiß auch, dass ich die nächsten drei Jahre noch in Österreich bei meinem Vater bleiben werde, weil ich durch mein Studium noch gebunden bin. Ich glaube, es lässt sich leichter über die Ferne sprechen als in dem Moment, in dem man die Entscheidung tatsächlich fällen muss. Die Entscheidung, sich gegen die Pflege der eigenen Eltern zu entscheiden, ist wahrscheinlich mindestens genauso schwer, wie sich dafür zu entscheiden.


Peggy Elfmann: Und genauso legitim. Diese unterschiedlichen Sichtweisen müssen bei einer solchen Entscheidung berücksichtigt werden, und ich denke, das ist auch ein Prozess. Eine Entscheidung fällt nicht vom Himmel,
 

Sofia: Sondern ist ein Weg, den man geht. Dann gibt es sicherlich auch diesen stimmigen Zeitpunkt, an dem man weiß, dass es so weit ist und es richtig und stimmig ist, so zu entscheiden. Dann sind die Weichen im Zweifel, wenn ich mir dessen bewusst bin, gut gestellt, um die Entscheidung auch umzusetzen.


Peggy Elfmann: Was würdest du anderen raten, die in deiner Situation sind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die ein Elternteil oder auch ein Großelternteil haben, um das sie sich kümmern? Was wäre dein Rat, den du ihnen mitgeben würdest?
 

Sofia: Vernetzung, Austausch, darüber sprechen und dabei ganz tief in sich hineinhören und anerkennen, dass Gefühle da sind und da sein dürfen, und dass sich auch Sichtweisen, Standpunkte und Gefühle verändern können. Nur weil man an einem Tag das eine sagt, muss das für den nächsten Tag nicht unbedingt die ultimative Gültigkeit haben, denn wir sind ein Prozess, und die Pflege für jemand anderen ist ein Prozess. Eine ganze Palette an Gefühlen wird dabei sichtbar und mischt sich in dieses bunte Bild. Ich glaube, es ist auch sehr wichtig, dass wir uns nicht als Opfer sehen, dass wir uns zugestehen, dass unser Leben auch ein gutes sein kann, für uns, für die, die wir pflegen, dass wir es genauso wert sind, wie alle anderen ein gutes Leben zu führen. Kompromisse sind natürlich auch ein Teil davon, aber man darf auch glücklich sein und in der Situation glücklich sein, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, dass jemand daran beteiligt ist, der oder die erkrankt ist.
 

Peggy Elfmann: Vielen, vielen Dank für das Teilen. Ich glaube, es ist ein sehr wichtiges Thema, und ich finde es großartig, dass du dich entschieden hast, es zu teilen und darüber zu sprechen. Ich bin beeindruckt. Danke.
 

Sofia: Ich bin sehr froh, dass ich die Möglichkeit habe, das zu teilen, weil es mir seit dem Teilen viel besser geht.
 

Peggy Elfmann: Reden hilft.


Anja Kälin: In diesem Sinne können wir auch gerne noch den Instagram-Kanal von Sophia empfehlen: "Unsere kleinen Dahamas".
 

Sofia: Genau, da ist noch ein Punkt dazwischen. Wir haben "Uns Kleinen Punkte" in den Shownotes verlinkt. 

Anja Kälin: Vielleicht möchte jemand wissen, wer eigentlich immer diese wunderschönen Fotos macht.
 

Sofia: Ach, die wunderschönen Fotos, die mache ich. Ich studiere Medienkunst. Dafür habe ich mir von meinem ersten Gehalt eine Kamera gekauft und seitdem viel geübt. Ich mache das gerne. Fotografieren macht mir unglaublich viel Spaß, und ich glaube, das sieht man in meinen Werken. Manche macht mein Freund, mein Mann, aber die sind dann von mir inszeniert und von ihm abgedrückt. Die meisten mache ich.


Peggy Elfmann: Schaut also beim Instagram-Kanal vorbei und seht Sophias schöne Bilder. Das war es mit dieser Folge von Leben, lieben, pflegen. Wenn euch die Folge gefallen hat, schreibt uns gerne, gebt uns ein Like.
Und seid beim nächsten Mal wieder dabei.


Anja Kälin: Bis dahin, eine gute Zeit. Ciao. Ciao.


 

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