Transkript von Robert Urban beim Demenz Meet 2023
Robert Urban: "Lebe für den Moment." Das kommt mir sehr oft als gut gemeinter Rat entgegen. Ich höre ihn, aber ich höre ihn nicht besonders gerne. Ich habe das Gefühl, er verlangt von mir, den Moment zu bewerten, zu unterscheiden zwischen den guten und den schlechten Momenten. Nur für die guten Momente soll ich zum Leben erwachen, die, in denen die Krankheit ihre Fesseln lockert und die Umrisse von dem freigibt, der meine Frau einmal war. Die schlechten Momente jedoch möge ich fortan unlebendig ausklammern. Jeder von uns kennt das Verhältnis zwischen guten und schlechten Momenten. Ich wäre also nicht so oft am Leben. Der Alltag hat mich gelehrt: Ich muss bereit sein, für jeden Moment zu leben. Nur dann habe ich eine Chance zu begreifen, was mein Verstand mich begreifen lässt. Nur dann kann ich akzeptieren: Ich muss auch in den Momenten leben, in denen meine Frau nicht bei mir ist, obwohl ich sie im Arm halte. Ihre Gedanken sind so unhaltbar wie ein Windstoß, der durch ein offengelassenes Fenster hereinströmt und unsere einst mit Leidenschaft auf dem Tisch des Lebens ausgebreiteten Zukunftspläne immer wieder von Neuem durcheinanderwirbelt. Ich muss in Momenten wach und lebendig sein, in denen mich eine teuflische Wut auf das Leben packt und ich meinen Wunsch nach Erlösung nicht zu definieren wage – er weiterhin das Unsagbare bleibt. Nur wenn ich auch in diesem Moment im Hier und Jetzt mit meiner Frau lebe, kann ich meine Wut bewältigen und verhindern, dass sie sich gegen sie richtet. Nur dann habe ich die Kraft, für uns beide zu sorgen.
Die Krankheit hat meine Zeit in Bernstein gegossen. Mein Leben dagegen hat sich in einen reißenden, wilden Strom verwandelt. Ich habe Angst, dass dieser Strom mich fortreißt und verschlingt. Ja, auf mich wartet ein tösender Wasserfall, und ich werde in die Tiefe stürzen. Ja, das glaube ich zu wissen. Ganz sicher jedoch weiß ich: Es macht keinen Sinn, sich in die Zukunft zu ängstigen. Demenz hat eine Uhr, aber keinen Kalender. Ich muss lernen, es auszuhalten, dass diese Krankheit das absolute Gegenteil von Glück bedeuten kann, und ich muss lernen, damit zu leben, dass meine Frau nicht bleiben kann. Nur wenn meine Seele lernt, nicht zu ertrinken, lassen mich ein verständiges Lachen von ihr, die Logik einer Antwort, die Verblüffung über eine spontane Reaktion, die Stromschnellen unseres Lebens vergessen. Dann verschwindet auch das bedrohliche Grollen des Wasserfalls, und eine wohlige, warme Leichtigkeit durchströmt meinen Körper. In solchen Momenten umarme ich sie oft zu ihrer Überraschung, aber dazu sind überraschende Umarmungen ja da. Und natürlich will ich diese flüchtige Unendlichkeit festhalten und bewahren, einrahmen, wie man ein lustiges Urlaubsfoto einrahmt, das einem bei jedem Betrachten mit Glück belohnt.
Für mich als Partner ist es ebenso schwierig, mit dieser Krankheit zu leben, wie es ist, sie zu verstehen. Ich muss damit umgehen. Leben mit Demenz bedeutet, zwei Leben zu führen. Und das Ziel beider Leben ist nicht der glückliche Moment allein. Es ist die Suche nach der größtmöglichen Selbstbestimmtheit und dem Erhalt der Würde. Unsere Partner haben ein Recht auf Respekt, auf Anerkennung und auf unsere Liebe. All das sollten wir ihnen geben, sooft unsere Kraft es erlaubt. Nur dann haben wir die Chance auf ein gelingendes Leben. Mein Lebenssatz lautet: Lebe im Moment, denn die Krankheit ist immer da – unerbittlich, kalt und grausam. Deshalb müssen wir einfühlsam sein, warm und zärtlich. Nur so können wir ihr begegnen. Besiegen können wir die Krankheit nicht, aber wir dürfen nicht gegen sie verlieren.