Direkt zum Inhalt

Transkript zur Folge die Familienkonferenz

Peggy Elfmann: Dann finde ich einen sehr schönen Gedanken, wenn man wirklich ein Gespräch ohne diese Person, ohne den Menschen mit Demenz, führt: Da vielleicht einen Platzhalter aufzustellen, einen leeren Stuhl mit einem Namensschild darauf, auf dem „Papa“ oder „Paul“ steht oder wie er von den einzelnen Familienmitgliedern genannt wird, damit man ihn zumindest optisch im Raum hat. Man sollte im Gespräch nicht vergessen, dass er ein Teil der Familie ist und dass auch seine Meinung wichtig ist. Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von „Leben, lieben, Pflegen“, dem Podcast zu Demenz und Familie. Mein Name ist Peggy Elfmann, ich bin Journalistin und Bloggerin auf Alzheimerundwir.


Anja Kälin: Hallo und willkommen. Ich bin Anja Kälin, Familiencoach und Mitgründerin von Desideria. Wir begleiten Angehörige von Menschen mit Demenz. Anja und ich reden oft darüber, dass es hilfreich ist, wenn sich ein Netzwerk aus Angehörigen und Zugehörigen um den Menschen mit Demenz kümmert. Dabei gilt es natürlich immer viel zu besprechen und manchmal auch Kompromisse zu finden. Dies kann man zum Beispiel in einer Familienkonferenz tun. Die Familienkonferenz ist das Thema unserer heutigen Podcast-Folge. Dazu haben wir uns einen Gast eingeladen, der sich damit sehr gut auskennt, nämlich Martin Schönacher. Martin ist Angehöriger und Coach bei Desideria K.. Herzlich willkommen, lieber Martin! Schön, dass du da bist.


Martin Schönacher: Danke. Ich freue mich sehr, da zu sein.


Doch bevor wir anfangen, möchten wir noch danke sagen. Vielen Dank an die Editaberland Wagner Stiftung. Sie unterstützt uns finanziell bei der Produktion dieser Folge. Ganz herzlichen Dank. Ja, lieber Martin, bevor wir in das Thema Familienkonferenz einsteigen, vielleicht magst du unseren Zuhörenden kurz sagen, wer du bist und was du machst.
Martin Schönacher: Ja, mein Name ist Martin Schönacher. Ich bin Mediator und systemischer Familientherapeut. Als ich in meiner Ausbildung zum systemischen Familientherapeuten war, habe ich Desideria K. kennengelernt. In derselben Zeit oder kurz vorher habe ich die Demenzdiagnose meiner Mutter erfahren. Das war auch die Verbindung, dass ich mich mit diesem Thema tief auseinandersetzen wollte. Ich habe dann von Anfang an mein eigenes Erleben in meine Ausbildung eingebracht und es somit besser verarbeiten können.
 

Ich finde es sehr schön, dass du da bist, Martin. Wir haben dich eingeladen, weil wir im Podcast schon viel über das Thema Familienkonferenz gesprochen haben. Wir haben es einmal angeschnitten und meistens auch in Situationen, wo es für Angehörige vielleicht schwierig wird. Das heißt, wo Konflikte auftauchen oder unterschiedliche Meinungen, und dann suchen die Familien einen Weg, wieder zusammenzukommen. Häufig ist es so, dass die Angehörigen in der Auseinandersetzung und beim Überlegen, wie man eine Situation gut managen oder Lösungen finden kann, manchmal auseinanderdriften. Nun ist es so, dass du als Mediator viel Berufspraxis hast und auch bei Desideria K. immer wieder Familien begleitest oder mitbekommst, die sich zerstreiten oder die sich nicht einig werden.
 

Martin Schönacher: Ich würde es jetzt gar nicht „Streit“ nennen. Ich glaube, so weit geht es oft gar nicht. Es geht, glaube ich, darum, dass viele Menschen das Bestmögliche machen wollen. Häufig ist zwischen den Menschen, die sich da wieder treffen, also den Geschwistern, viel Leben und viel Zeit vergangen. Plötzlich kommt eine Herausforderung auf sie zu, wie „Ich muss Entscheidungen treffen, ab wann muss ich für meine Mutter entscheiden, ab wann muss ich für meinen Vater entscheiden? Wann muss ich meine Eltern unterstützen? Wann entmachte ich auch gefühlt die Menschen, die mir bis dahin Ratgeber waren?“. Da braucht es gar keine Konflikte, sondern es sind eine Vielzahl von Herausforderungen. Zusätzlich hat sich jeder der Geschwisterteile wahrscheinlich unterschiedlich entwickelt, hat unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht und hat eigene Strategien, wie er mit Herausforderungen umgeht. Diese unterschiedlichen Herausforderungen müssen dann an einem Tisch oder in einer Situation geklärt werden. Das fordert die Familien auf vielen Ebenen. Da ist es schön, wenn man sich bewusst macht, was da eigentlich für eine Vielzahl von Herausforderungen gleichzeitig im Raum sind. Dann braucht man vielleicht gar keinen Konflikt, sondern kann sehen: Hier ist einfach viel zu klären, und ich muss da jetzt eine Struktur finden oder durch das Gespräch kommen, damit jeder seinen Teil beitragen kann.
 

Ich glaube, es ist für viele auch eine neue Erfahrung, als Familie gemeinsam auf Lösungssuche zu gehen.
 

Martin Schönacher: Es ist auch deshalb schwierig, weil die Perspektive von Anfang an vielleicht schon unterschiedlich ist. Vielleicht meint der eine schon: „Wir müssen jetzt unbedingt handeln, die nächsten Schritte klären“, und der andere denkt: „Nein, das läuft doch ganz gut. Vertrau doch meiner Mutter, vertrau doch unserer Mutter. Sie macht das schon, sie kommt mit dem Vater schon zurecht“ – als Beispiel. Überhaupt muss man sagen, es gibt einfach verschiedene Ausgangspunkte. Es gibt meistens unter Geschwistern jemanden, der der anpackendere war und das vielleicht in der Kindheit schon eher geregelt hat. Und jemand, der eher sagt: „Das wird schon alles gut, mach dir nicht so viel Sorgen, du mit deiner Hektik!“. Diese Ausgangsposition bringt schon ganz unterschiedliche Positionen.


Dann stellt sich die Frage, wo wollen wir überhaupt hin?. Ab wann müssen wir etwas entscheiden?. Vielleicht wäre es ganz nützlich, ein Beispiel zu haben. Wir können einfach einmal eine Familie konstruieren. Das heißt, der Vater ist an Demenz erkrankt, die Mutter ist Hauptpflegeperson. Es gibt vielleicht drei Kinder, die alle auch schon im Erwachsenenalter sind. Plötzlich wird im Gespräch zwischen Tochter und Mutter deutlich, dass die Mutter langsam an ihre Grenzen stößt. Diese Tochter sagt dann ihren Geschwistern Bescheid: „Hallo, wir müssen etwas unternehmen!“. Dann gibt es ja häufig Lösungen nach dem Motto: „Wir richten mal eine WhatsApp-Gruppe ein“, damit man leicht kommunizieren kann, sich auf dem Laufenden hält. Aber irgendwie funktioniert es nicht gut, und einer steigt aus.


Martin Schönacher: Es ist ja eigentlich ein großer Schritt, aus einer WhatsApp-Familiengruppe auszusteigen. Allein diese Vorstellung!. Jemand fühlt sich auf den Schlips getreten, jemand fühlt sich nicht verstanden und agiert so. Und WhatsApp hat die Eigenschaft, viel Interpretation zuzulassen. Was ist eigentlich gerade der Konflikt?. Der Konflikt wird oft gar nicht ausgesprochen. Jeder interpretiert diese Kurznachricht noch einmal anders. Man bezieht es auf sich selbst, und am Schluss tritt einer aus. Und was ist dann?. Dann ist ein großer Vertrauensbruch oder viel Verletztheit im Raum.
 

Aber spätestens dann sollte man im persönlichen Gespräch mit allen Beteiligten sprechen und mehr miteinander als übereinander sprechen. Was würdest du denn jetzt in einer solchen Situation einer Familie empfehlen? Wie kann sie denn starten?
 

Martin Schönacher: Was macht der Mediator?. Der Mediator vereinbart einen Termin. Es gibt einen festen Termin, eine feste Zeit. Der Mediator sorgt dafür, dass es ein angemessener Raum ist, dass es eine angemessene Struktur hat. Das allein kann eine Familie auch schon machen. Das heißt, sie überlegen gemeinsam: Wann wollen wir sprechen?. Wer muss alles beim Gespräch dabei sein?. Wofür müssen wir sorgen, damit wir eine ungestörte Atmosphäre haben?. Zum Beispiel schalten wir die Handys aus, zum Beispiel kümmert sich jemand um die Kinder. Soll der demenzerkrankte Vater in dem Fall dabei sein oder nicht?. Kann er noch dabei sein?. Müssen wir anders entscheiden?. Sich vorab wirklich Gedanken zu machen, wie ein solches Gespräch gut gelingen kann.
 

Das finde ich einen ganz spannenden Aspekt: diese Frage. Darf derjenige, darf der Mensch mit Demenz dabei sein oder soll er dabei sein?. Weil einerseits geht es ja ganz zentral um die Person. Andererseits ist die Frage, man möchte ja auch nicht Gefühle verletzen, oder ich finde, es fällt sehr schwer, offen und ehrlich zu sprechen, weil man denjenigen nicht verletzen oder beschämen möchte. Was wäre denn dein Ratschlag?


Martin Schönacher: Ich glaube, man muss individuell entscheiden. Klar ist: Ein Mensch mit Demenz hat meistens Probleme, vor allem, wenn viele Menschen gleichzeitig im Raum sind, wenn es sehr emotional wird, wenn es sehr tiefgängig ist und dann vielleicht auch noch, wenn es viel mit Unsicherheit zu tun hat, die ihn selbst als Person betrifft. Dann kann es gut sein, dass man entscheidet: „Okay, wir wollen die Meinung des Menschen mit Demenz gerne wissen und berücksichtigen, und gleichzeitig ist es in diesem Familiengespräch gerade ratsam, dass er nicht dabei ist, weil es ihm zu viel wird“. Dann würde ich empfehlen, dass vielleicht jemand vorab mit ihm sprechen kann und seine Grundinteressen bezüglich des Themas in Erfahrung bringt, um diese in das Gespräch einbringen zu können. Und dann finde ich es einen sehr schönen Gedanken, wenn man wirklich ein Gespräch hat ohne diese Person, ohne den Menschen mit Demenz, da vielleicht einen Platzhalter aufzustellen, einen leeren Stuhl mit einem Namensschild darauf, auf dem „Papa“ oder „Paul“ steht oder wie er von den einzelnen Familienmitgliedern genannt wird, damit man ihn zumindest optisch im Raum hat. Man sollte im Gespräch nicht vergessen, dass er ein Teil der Familie ist und dass auch seine Meinung wichtig ist. Und wenn man ihn nicht dabei hat, dann ist er nur deshalb nicht dabei, weil man es in der Situation für besser hält, ihn zu schützen und dadurch trotzdem seine Meinung anders einbringt.


Spannend. Also da würdigt man ihn quasi mit einem Platz, auf dem das Namenskärtchen liegt.
 

Martin Schönacher: Manchmal muss man so etwas erlebt haben, damit man spürt, was das für einen Unterschied macht. Aber wer es einmal erlebt hat, in einem Kreis zu sitzen, wo dieser Stuhl mit da ist, wo das Namensschild darauf ist, wo man sich bewusst macht: „Wir treffen uns eigentlich, weil unser Familienangehöriger gerade eine schwere Herausforderung hat, und wir damit umgehen, Lösungen finden müssen“, diese Haltung muss man auch würdigen, und ich finde das eine schöne, wertschätzende Art und Weise.
 

Ein toller Gedanke. In einem solchen Gespräch kommen oft viele Themen auf den Tisch. Du hast gesagt, es ist hilfreich, wenn man sich davor überlegt, was wollen wir denn besprechen?. Wie kann man sich das strukturiert überlegen? Im Beruf gibt es ja oft eine Agenda für ein Meeting. Macht so etwas auch Sinn im Familienkreis, oder fühlen sich dann manche angegriffen?
 

Martin Schönacher: Nein, ich finde schon, dass es total Sinn macht. Es ist eine mediative Struktur. Eine Mediation ist eigentlich nichts anderes als eine Struktur. Der Mediator hat den Überblick, in welcher Phase man sich gerade befindet, um kontrolliert durch ein Gespräch zu führen. Ich will nicht zu tief einsteigen, aber der erste Punkt ist eigentlich, dass man sich Gedanken macht, warum man sich trifft. Und es muss nicht die Lösung sein, sondern ein sogenanntes Metaziel, also etwas zu vereinbaren, wie „Wir wollen das Bestmögliche für unsere Eltern“ oder „Wir wollen gemeinsam entscheiden, wie wir Mutter unterstützen können“. Das sind Metaziele. Es könnte auch ein Ziel sein, wie „Wir wollen, egal was jetzt passiert, eine Struktur bewahren, wo wir noch gemeinsam Weihnachten feiern können, wo wir gemeinsam auch unterm Weihnachtsbaum sitzen können, wo wir uns noch in die Augen schauen können“. Wir machen das Ganze, weil wir uns verbunden fühlen und dafür sorgen müssen, dass wir durch diese schwere Zeit kommen.


Wenn ich mir das jetzt so vorstelle, also diese Familie kommt zusammen in einem neutralen Raum. Es gibt auch einen Platz für den Erkrankten, zumindest im Raum einen Stuhl oder einen Platz, wo er sitzen könnte. Es gibt Gesprächsregeln wahrscheinlich, oder?.


Martin Schönacher: Das ist ein gutes Stichwort. Das würde ich auch in der Vorbereitung vielleicht noch einmal vereinbaren, wo man sagen kann: „Wie gehen wir eigentlich damit um?. Wir kennen uns ja, aber man kann sagen: 'Wir werden nicht so laut, wir lassen uns ausreden.'“. Wenn es schwierig fällt, wenn man weiß, dass man gerne immer viel und laut redet, könnte es auch hilfreich sein zu sagen: „Vielleicht beginnen wir am Anfang damit, dass jeder 3 Minuten Zeit hat zu reden. Jeder nimmt sich einen Moment, wo er konzentriert dem anderen zuhören kann und der andere reden kann, ohne unterbrochen zu werden“. Einfach zu sagen: „Die Familie braucht das, wir regeln das“. Es muss jetzt nicht alles in Stein gemeißelt sein, aber wir kennen uns ja und wir wissen, wie wir als Familie sind. Lasst uns da einfach Methoden finden, wie wir uns selbst eine Struktur geben.
 

Jetzt kann es natürlich sein, dass in einer solchen Situation plötzlich Themen auf den Tisch kommen, die mit dem Metaziel gar nicht so viel zu tun haben, sondern dass alte Themen hochkochen, nicht wahr?. Beispielsweise fühlt sich die eine Tochter nicht so geliebt wie die anderen und hat das Gefühl, ihre Argumente werden immer nicht gehört oder nicht beachtet oder abgetan, als wären sie nicht wichtig. Was könnte man mit diesen Seitenkonflikten tun?
 

Martin Schönacher: Ich gehe vielleicht einen kleinen Schritt zurück und fasse das etwas umfassender zusammen. Zuerst: Ein solches Gespräch hat eine innere Haltung, die „Klarheit schafft Frieden“ heißt. Das heißt, wir versuchen, offen und ehrlich zu reden. Lieber haben wir diese Herausforderung auf dem Tisch und benannt, und können dann wenigstens damit umgehen, als wenn es immer unterschwellig unter allem liegt. Das heißt, es können durchaus Konflikte hochkommen, Haltungen, Werte, Meinungen. Ich habe vorher schon einmal diese Phasen erwähnt. In dieser ersten Phase, wo wir ein Metaziel vereinbaren, würden wir in der zweiten Phase Themen sammeln. Was gibt es alles für Themen, die die Familie besprechen will?.
Und da könnte es Themen geben, wie: Woran merken wir, dass die Mutter überfordert ist?. Ab wann müssen wir anders agieren?. Es könnten aber auch Themen sein, wie „Ich fühle mich weniger geliebt als meine Schwester“ oder „Mein Wort ist weniger wert“. Dann würden wir diese Themen auch benennen, so wie alle anderen Themen auch. Ein Thema könnte „Patientenverfügung“ sein, ein anderes „Wer informiert sich über Hilfseinrichtungen?“. Es kann aber auch ein Thema sein, wie „Wie sprechen wir miteinander?“ oder „Wie fühle ich mich in der Familie?“.

Also, das heißt, es werden erst einmal Themen gesammelt.
 

Martin Schönacher: Themen werden gesammelt, um diesen großen Konflikt und diese große Herausforderung in handelbare Puzzleteile herunterzubrechen.
 

Aber trotzdem ist es oft so, du hast es vorhin auch schon gesagt, es gibt meistens jemanden, der so ein Machertyp ist, Dinge umsetzen will. Wie werden denn alle Themen gleich gewertschätzt oder gleich aufgenommen?. Und wie kann ich denn verändern, dass ein Familienmitglied meint, er wisse es am besten und das sei jetzt das, was wir besprechen müssten?. Hast du einen ganz praktischen Tipp?.
 

Martin Schönacher: Der praktische Tipp ist, es wieder zu zerlegen und kleinteilig anzugehen. Dein Beispiel war: „Er weiß es ja, ich weiß es ja sowieso besser“. Gut. Das ist eine Sache, die man unter Kommunikation oder Wertschätzung einordnen kann. Wir sprechen also irgendwann in diesem Gespräch auch über Wertschätzung. Was verbinden wir damit?. Aber eigentlich steckt dahinter ein „Ich weiß ja eh immer alles besser“. Aber eigentlich reden wir ja gerade zum Beispiel darüber, welche Einrichtungen es gibt oder welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt. Kann man da versuchen, wieder auf die Sachebene zu kommen, zu sagen: „Einerseits müssen wir darüber reden, welche Unterstützung wir für unseren Vater brauchen, welche Möglichkeiten es gibt. Kommt eine 24-Stunden-Kraft in Frage, gibt es Tagespflegeeinrichtungen, gibt es solche Hilfsangebote?“. Und gleichzeitig gibt es ein anderes Thema. Das heißt, „Ich fühle mich in der Kommunikation mit dir unterlegen“ oder da ploppen alte Muster auf, und das war schon immer so. Dieses Thema würde man dann genau angehen: „Woran machst du fest, dass du denkst, dass ich so überheblich bin?. Woher kommt es?“. Dem Thema wirklich als eigenes Thema zu widmen und es nicht mit dem Thema zu verknüpfen, was wir eigentlich auf der Sachebene klären wollten.
 

Das ist verdammt schwer, oder?
 

Martin Schönacher: Das ist verdammt schwer, und darum glaube ich, ist es auch eine Herausforderung als Familie, da immer gut durchzukommen. Ich glaube, es ist total vernünftig, sich da auch Unterstützung zu suchen, weil man als Betroffener eigentlich schon in der Verteidigungshaltung ist. Wenn jetzt in dem Beispiel Peggy gerade zu mir gesagt hätte: „Ja, du hattest ja immer das Gefühl, du weißt es besser“, dann müsste ich mich ja eigentlich schon verteidigen und sagen: „Nein, das stimmt gar nicht, das ist doch gar nicht immer der Fall. Woran machst du das fest, wieso 'immer'?“. Und wenn es Peggy aber in diesem Fall der Anja erklären müsste, warum ich so überheblich bin oder warum ich immer alles besser weiß, dann könnte ich zuhören und schauen, was davon nehme ich an und was nicht, und wo ich mich wirklich verteidigen will. Also, ich habe die Möglichkeit, in einer Mediation Zuhörer der eigenen Geschichte zu sein.
 

Das klingt nach viel achtsamer Kommunikation, und wenn ich ehrlich bin, dann kann ich mir gar nicht vorstellen, dass eine Familienkonferenz ausreicht, um dieses Thema zu klären. Genügt dann wirklich ein Gespräch, oder braucht es mehr?. Wie ist deine Erfahrung?.
 

Martin Schönacher: Das kann man so nicht sagen, wie viele Gespräche es braucht. Es kann schon sein, dass es dann Themen im großen Gespräch gibt, die vielleicht in einer Zweierbeziehung, zum Beispiel zwischen Mutter und Tochter, geklärt werden, die nicht in der großen Runde präsent sind. Was ich bei Familien kenne, auf die ich als Berater treffe, ist meistens, dass man in Situationen kommt, in denen die Leute schon nicht mehr miteinander reden. Ich komme zu Familien, die kommunizieren nur noch per E-Mail, wohnen aber ganz nah zusammen. Sie gehen sich aus dem Weg. Da ist es ein großer Schritt zu sagen: „Nein, wir nehmen uns die Zeit, wir bleiben bei einer vernünftigen Lautstärke und niemand verlässt während des Gesprächs den Raum“. Das ist für Familien schon ein sehr, sehr großer Fortschritt. Und dann kann man sagen: „Okay, wir haben jetzt viele Themen zu besprechen. Wir haben zum Beispiel auch das Thema ‚Ich fühle mich dir gegenüber vernachlässigt‘ und Sonstiges“. Also sehr viele tiefe Themen. Aber man hat vielleicht auch ein paar Themen, die eher an der Oberfläche, auf der Sachebene liegen. Und man kann sagen: „Wir lassen das andere erst einmal weg und fangen bei einem Thema an“. Und wenn die Familie plötzlich wieder lernt, dass man sich einem Thema widmen kann – und „einem Thema widmen“ würde heißen: „Wie siehst du den Punkt?. Wie sehe ich den Punkt?. Was ist dein Bedürfnis dahinter?. Was ist mein Bedürfnis dahinter?. Welchen Wunsch hast du an mich?. Welchen Wunsch habe ich an dich?“. Und so nähern wir uns diesem Thema an, um dann eine Lösung zu finden. Diese Erfahrung zu machen, bringt der Familie eigentlich erst wieder bei, dass es geht, dass die Mühe eines Gesprächs auch eine positive Erfahrung sein kann.
 

Ja. Und ich finde, es ist tatsächlich auch eine schöne Idee, wenn ein Thema wie Demenz im Raum steht, dass die Familie sich dafür trifft. Also nicht einfach nur Weihnachten feiert und Demenz ist ein Seitenproblem, das am besten gar nicht angesprochen wird. Sondern dass man sagt: „Okay, wir machen uns alle die Mühe, an diesen Ort zu kommen und diesem Thema einfach einmal Raum zu geben und zu hören, wie jeder gerade darauf schaut“. Insofern kann ich es gut nachvollziehen. Wir hatten einmal eine Situation, wo es dann tatsächlich auch um die Entscheidung Pflegeheim mit meiner Mutter ging. Mein Vater war damals in Reha, und er hat uns schon signalisiert: „Okay, ich glaube nicht, dass wir wieder in die Wohnung zurück können, und ich würde mir wünschen, dass ihr alle in Sternfahrt kommt, inklusive Mama“. Doch wir hatten das Gefühl, es wäre nicht gut, wenn sie dabei ist. Und dann hat mein Schwager tatsächlich meine Mutter geschnappt und ist mit ihr spazieren gegangen. Aber sie war eben da, sie war auch physisch anwesend. Dann haben wir uns Zeit genommen, und in dieser Zeit haben wir sehr viele wichtige Entscheidungen getroffen. Aber im Detail mussten wir natürlich danach noch viele Feinabstimmungen hinbekommen. Es war jedoch wirklich wie ein Ort, wo wir das besprochen haben.
 

Martin Schönacher: Und du sagst etwas ganz Wichtiges: die Konzentration und das Bewusstsein. Wir alle treffen die Entscheidung. Wir brechen auf, gehen an diesen Ort und treffen uns mit dem Ziel, uns überhaupt auszutauschen. Das passiert bei vielen Familien zwischen Tür und Angel. Jemand hat das Bedürfnis zu sprechen und spricht den anderen an: „Bleib mal stehen, jetzt reden wir mal!“. Der andere ist gerade gar nicht bereit, zu sagen: „Nein, das machen wir nicht so“. Es ist uns wichtig genug, dem Raum zu geben, dafür einen Termin zu vereinbaren, sich zusammenzusetzen, sich Zeit zu nehmen und wirklich die Achtsamkeit und die Energie aufeinander zu lenken.
 

Was würde denn jetzt passieren, wenn eine Situation eskaliert?.
 

Martin Schönacher: Manche Menschen gehen schnell in die Verteidigungshaltung, und Verteidigung ist auch eine Grundprogrammierung in unserem Gehirn. Es könnte sein, dass Sätze fallen und ich mich so angegriffen fühle, dass ich sofort eine Verteidigungshaltung, also eine Kampfhandlung, eingehe. Kampf jetzt nicht in dem Sinne, dass die Leute sich prügeln, aber im Gehirn passiert ja Folgendes, dass wir einen Schutzmechanismus hochfahren. Ich fühle mich bedroht, also muss ich jetzt meine ganze Energie in dem Moment hochfahren, muss entweder ins Kämpfen gehen oder ins Weglaufen gehen oder ins Totstellen gehen. Das sind unsere Gehirnmodelle, wie wir darauf reagieren. Wenn man das einmal weiß, das heißt, die ganze Energie geht zurück ins Stammhirn und ich bin erst einmal auf volle Energie auf den Kampf ausgerichtet. Dann ist es erst einmal gut, nicht auf der Sachebene zu argumentieren, sondern das Gefühl abzuholen. Indem man zur Ruhe kommt, durchatmet, lüftet, indem man sagt: „Wow, ich merke, dass jetzt echt viel Energie im Raum ist. Das liegt daran, weil es uns allen wichtig ist. Wir alle wollen eigentlich nur das Beste für unsere Mutter oder für unseren Vater. Wir wollen eigentlich nur Gutes. Wir fühlen uns nur gerade nicht verstanden und nicht gehört. Und deshalb sind wir in den Kampfmodus gegangen“. Das heißt, sich das bewusst machen, Kämpfen ist in diesem Fall nichts Schlimmes, sondern ist ein Indiz dafür, dass wir alle dafür brennen, dass es allen gut geht. Wir atmen einmal durch und versuchen wieder herauszufinden, welche Sachebenen wir eigentlich Lösungen brauchen.
 

Aber ist es dann tatsächlich die Sachebene, auf der man wieder einsteigt, oder wäre es nicht erst einmal wichtig, dieses Gefühl zu adressieren, warum das jetzt passiert ist?. Also warum jemand so explodiert ist. Zum Beispiel.
 

Martin Schönacher: Das hast du komplett richtig gesagt. Und was dann genau die richtige Strategie ist, das hängt ein bisschen einfach von der Situation ab. Darum ist ein Familiengespräch ohne Wegleitung schon schwierig, weil einerseits zum Gespräch dazugehört zu sagen, was einen gerade so getriggert hat oder warum man gerade so verletzt ist, und oft schafft man es aber nicht, alle Ebenen gleichzeitig zu bedienen. Zu sagen: „Hey, nehmen wir uns jetzt Zeit und reden jetzt die nächsten 5 Minuten vielleicht darüber, wie kommunizieren wir eigentlich?. Warum kommunizieren wir so, was habe ich für Bedürfnisse, wo fühle ich mich verletzt, wo fühlst du dich verletzt?“. Oder man trifft gemeinsam die Entscheidung und sagt: „Nein, das können wir zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal aufgreifen. Jetzt finden wir eine Lösung für die Frage, wo Papa morgen schlafen kann. Er muss morgen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Soll er jetzt in eine Kurzzeitpflege oder soll er nach Hause kommen?. Jetzt müssen wir auf diese Ebene gehen. Das Familiensystem muss also individuell unterscheiden.
 

Und es kann eben auch anlassspezifisch sein, wenn die Antworten und Lösungen drängen. Wie beispielsweise in einer Katastrophe, wo vielleicht jemand im Krankenhaus ist oder eine Entlassung ansteht oder etwas sehr schnell entschieden werden muss, ist etwas anderes, als wenn man grundsätzlich vielleicht über eine solche Entscheidung nachdenkt.
 

Martin Schönacher: Aber wenn ich trotzdem bei Peggy’s Satz nachdenke, würde ich sagen, wenn ich ein Thema schon sage: „Das lassen wir jetzt hinten an, das besprechen wir jetzt nicht, weil jetzt müssen wir uns darüber unterhalten, wo Papa morgen schläft“. Bei dem Beispiel wäre es trotzdem wichtig zu sagen: „Hey, da haben wir aber einen Punkt, und dafür wollen wir uns gesondert Zeit nehmen“. Und da ist es dann einfach zu sagen: „Da machen wir jetzt einen Waldspaziergang irgendwann nächste Woche und reden mal über das Thema, wie wir miteinander reden“ – so als Beispiel. Alles, was man dann wirklich abwürgt, soll nicht abgewürgt werden mit dem Gedanken: „Ich deckele das, und es darf nicht zutage kommen“, sondern mit dem Markieren: „Wir haben gesehen, dass es da ist, da gibt es noch eine Baustelle, da gibt es noch Arbeit für uns als Familienmitglieder, und das nehmen wir zu einem Zeitpunkt, wo wir das gut bearbeiten können“.
 

Jetzt höre ich daraus, dass es vielleicht doch manchmal gar nicht ungeschickt ist, sich da einen externen Begleiter zu suchen. Es gibt aber sicherlich Menschen in einer solchen Familie, die das total ablehnen.
 

Martin Schönacher: Das ist ein Fall, den ich sehr häufig habe: dass eine Person sehr verzweifelt bei mir anruft, gerne Lösungen hätte, aber sagt: „Alle anderen wollen gerade nicht reden, das ist zu privat, das geht niemanden etwas an, das schaffen wir doch alleine“. Und ich kann am Telefon dann immer nur darauf hinweisen: es ist sehr sinnvoll, wenn alle Beteiligten freiwillig an einem Gespräch teilnehmen. Und wenn dies nicht mit einem fremden Mediator gemacht werden kann, dann ist es trotzdem gut, allein dieses Gespräch zu führen und dabei die Regeln oder Vorbereitungen zu beachten, die wir vorher schon hatten. Also ein ernsthaftes Gespräch mit einem festen Termin und einem klaren Anliegen. Wäre es denn auch möglich, dass ein Teil der Familie erst einmal mit einem Mediator anfängt und die anderen später dazukommen, wenn sie Lust haben?.
Martin Schönacher: Ich glaube, es ist manchmal die einzige Möglichkeit, wenn nicht alle an dem Gespräch dabei sein wollen, und ein solches Gespräch kann nur freiwillig stattfinden. Dann ist es auch sinnvoll, mit einer einzelnen Person zu arbeiten. Und in solchen Gesprächen kann man dann reflektieren, was der persönliche Anteil am ganzen Familiensystem ist, aber auch wie man gut ausdrücken kann, was die eigenen Wünsche und Bedürfnisse sind und warum man es sinnvoll findet, die Entscheidung so oder so zu treffen, um eine gewisse eigene Reflexion zu erlangen und vielleicht auch Lösungsvorschläge zu erarbeiten.

Was mich noch interessieren würde, wie es dann weitergeht: Gesetzt den Fall, die Familie findet zusammen, spricht – oder ein Teil der Familie – und es gibt verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Wie geht man denn dann weiter beziehungsweise wie wird jetzt vereinbart, wer was macht?. Ganz pragmatisch: „Wir schreiben auf und halten es fest“, oder sagt jeder „Ja, ja, wird schon“, oder ist es irgendwie so, dass es zwar „gemacht werden muss“, sich aber letztlich keiner darum kümmert, nicht wahr?


Martin Schönacher: Das ist ein sehr guter Hinweis. Es ist sehr sinnvoll, diese Aufgaben auch wirklich zu verteilen und zwar schriftlich zu fixieren. Im Business sagt man dazu „smarte Zielvereinbarungen“. Das heißt, wir machen es schriftlich, wir machen es messbar (indem man genau weiß, wer was macht), wir machen es attraktiv (das heißt, es ist ein realistisches Ziel) und wir machen es terminiert (bis wann ist es erledigt)?.
 

Dann hat man einen Fahrplan danach.
 

Martin Schönacher: Da hat man dann einen Fahrplan. Ich finde, eigentlich haben wir jetzt vieles von dem besprochen, was eine Familienkonferenz ausmacht.
 

Danke, Martin, dass du da warst und uns das Thema näher gebracht hast. Ich nehme von dir mit, dass es total wichtig ist und auch Erfolg bringt, sich davor zu überlegen, was wir denn besprechen wollen. In welcher Runde besprechen wir das?. Und was ich total schön finde, sind deine Hinweise, wie man die Meinungen und Wünsche des Menschen mit Demenz einbeziehen kann, wenn es nicht mehr geht. Also eben nicht nur über ihn spricht, sondern ihm tatsächlich auch im Raum einen Raum gibt in diesem Gespräch. Danke dafür.
 

Martin Schönacher: Sehr gerne. Ich glaube, es waren viele gute Anregungen dabei.
 

Es wird auch eine Checkliste geben. Martin hat für uns quasi eine Checkliste erarbeitet, wie ihr gut in ein Gespräch gehen könnt – sozusagen eine Art Richtlinie für ein gutes Gespräch, eine gute Familienkonferenz. Diese Checkliste werdet ihr als Link in den Shownotes finden und natürlich auch auf www.lebenliebenpflegen.de. Das war es von uns. Ein großer Dank geht an Valentin Ramm, der uns mit der Technik unterstützt. Das war „Leben, lieben, Pflegen“, der Podcast zu Demenz und Familie. Heute mit unserem Gast Martin Schönacher. Wir freuen uns, wenn ihr den Podcast weiterempfehlt und auch bei der nächsten Folge wieder dabei seid. Eure Peggy Elfmann und Anja Kälin von „Leben, lieben, Pflegen“. Tschüss.
 

Der Desideria Newsletter

Mit unserem Desideria Newsletter bleiben Sie auf dem Laufenden und erhalten Neuigkeiten zu unseren Unterstützungsangeboten, Aktionen in der Öffentlichkeit und Veranstaltungen.

Hier zum Newsletter anmelden