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Transkript zur Folge Lückenleben. Mit Gast: Katrin Seyfert

Von pflegenden Angehörigen wird viel erwartet, aber nicht unbedingt Wut oder Trotz, sondern das soll man bitte stillleidend vollbringen. Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Leben, Lieben, Pflegen, dem Desideria Podcast zu Demenz und Familie. Mein Name ist Peggy Elfmann. Ich bin Journalistin und Bloggerin auf Alzheimer und Wir. Hallo und willkommen. 

Ich bin Anja Kälin, Familiencoach und Mitbegründerin von Desideria. Wir begleiten Angehörige von Menschen mit Demenz. Das tun wir mit unterschiedlichen Angeboten, zum Beispiel Angehörigenschulungen und Coachings.


Darf man über Krankheit, Sterben, Tod öffentlich reden, oder ist das immer noch ein Tabu? Das fragt die Journalistin und Autorin Katrin Seyfert in ihrem kürzlich erschienenen Buch Lückenleben. Wir sind froh, dass sie es getan hat und möchten mit ihr über das Buch, über ihren Umgang mit der Alzheimer-Erkrankung ihres Mannes und ihre Rolle als Angehörige sprechen. Schön, dass du bei Leben, Lieben, Pflegen bist, liebe Katrin. Hallo und vielen Dank für die Einladung. Doch bevor wir anfangen, möchten wir noch Danke sagen. Ein großer Dank geht an Desideria. Der Verein ermöglicht die Produktion dieser Folge. Herzlichen Dank. Desideria arbeitet gemeinnützig und unterstützt Angehörige von Menschen mit Demenz. Für diese Arbeit ist der Verein auf Spenden angewiesen. Ihr könnt unsere Arbeit mit einer Spende unterstützen. Vielen Dank.


Ja, liebe Katrin, ich habe ja schon angedeutet, dass du über die Alzheimer-Erkrankung deines Mannes und auch deine Rolle und deine Erfahrung als Angehörige geschrieben hast. Vielleicht kannst du dich noch ein bisschen vorstellen: Wer gehört dann zur Familie und wie ist die Alzheimer-Erkrankung in euer Leben gekommen? Also, ich bin 53 Jahre alt. Wir leben in einer Familie mit drei Kindern, drei Pubertierenden. Ich darf auf gar keinen Fall den Hund vergessen, der auch dazugehört. Der spielt ja auch eine wichtige Rolle irgendwie. Inzwischen pubertieren sie nicht mehr. Da bin ich ganz froh. Wenigstens einer ist aus dieser Phase raus.


Wir leben in Hamburg am Stadtrand, und das erste Mal in Kontakt getreten sind wir mit der Alzheimer-Krankheit, mit dieser Scheißkrankheit, als mein Mann vor ungefähr acht Jahren die Diagnose bekam. Er litt an einer frühen Form der Alzheimer-Erkrankung. Schlagt mich jetzt mit Zahlen, aber ich glaube, das ist unter 1% aller Betroffenen, die so frühzeitig erkrankt sind. Ja, ich glaube, 1% ist eine einigermaßen niederschmetternde Quote, wenn man zu diesem 1% gehört. Andererseits, meine Oma hat immer gesagt: „Unter jedem Dach ein Ach.“ Also muss man vielleicht gar nicht so sehr danach fragen, warum ausgerechnet wir.


In deinem Buch beschreibst du dann eine Situation als Ehefrau eines an Alzheimer erkrankten Mannes, die sich von vielen anderen Beschreibungen unterscheidet. Du hast ja auch schon gesagt, eben auch aus dem Grund, weil unter dem Dach ein reiches Familienleben stattgefunden hat und ihr auch einen großen Freundeskreis hattet. Ja, und tatsächlich war ich relativ von Beginn an bockbeinig und habe mich geweigert, mit dieser Krankheit schweigend nach Hause zu gehen und die Tür zu schließen. Das heißt, wir haben sehr, sehr früh einfach allen erzählt, wie es um meinen Mann stand.


Buchstäblich sogar auch dem Briefträger, weil wie klug ist das denn, wenn man so ein kleines Dorf innerhalb einer großen Stadt hat, die mit aufpasst. So hatte ich nie das Gefühl, ich muss mich jetzt irgendwie schämen, wenn ich an die Tankstelle gehe und der Verkäufer sagt: „Ja, Ihr Mann hat beim letzten Mal seine Brille hier vergessen und ich kriege auch noch 23 Euro von Ihnen bezahlt oder auch nicht.“ Das hat das Umfeld viel leichter mitgetragen, in dem Moment, wo es wusste, das ist eine Krankheit.
Ja, dass ihr so offen damit umgegangen seid, setzt ja vermutlich auch voraus, dass ihr untereinander eine gute Kommunikation über dieses Thema hattet. Und das finde ich schon auch irgendwie bemerkenswert, weil ich höre ganz oft von Angehörigen so nach dem Motto: „Nee, da haben wir eigentlich nicht drüber gesprochen“ oder „Da hat mein Mann, meine Frau, meine Mutter, mein Vater nicht drüber geredet und dann irgendwann war es halt so spät.“ Mich würde interessieren, wie seid denn ihr damit umgegangen? Konntet ihr davor darüber sprechen, auch vielleicht schon über den Verdacht der Krankheit, und wie hat sich das danach verändert oder entwickelt?


Also, da waren wir, glaube ich, auf eine doppelte Art und Weise sehr privilegiert. Mein Mann war Intensivmediziner; für ihn gehörte das Leben und Sterben tatsächlich zum täglichen Brot. Wir haben eine Ehe lang hindurch tatsächlich auch existenzielle Fragestellungen gehabt: Wann ist eine Nierentransplantation sinnvoll und was sind ethische Voraussetzungen? Und ich selber bin aufgewachsen: Die erste Tote, die ich kennengelernt habe, war meine Großmutter, die tatsächlich ein halbes Jahr, bevor sie gestorben ist, mit mir das sensationelle Kinderbuch gelesen hat: Servus Opa, sagt ich leise. Das hat die Erfinderin von Benjamin Blümchen geschrieben – weiß kaum einer. Und das las sie sehr, sehr pädagogisch wertvoll mit mir. Sie klappte das Buch zu und starb. Und ich war sozusagen richtig gut und früh und eingebettet auf das, was da kommen mag, vorbereitet. Und dieses offene Reden über Leben und Sterben und alles, was so dazwischen liegt, das habe ich mir zum Glück behalten.


Da höre ich so ein bisschen raus, dass du auch gar nicht so diese Angst hattest, weil das berichten ja viele Angehörige. Und da kann ich mich auch gut dran erinnern, dass diese Krankheit meiner Mama mit ganz viel Angst verbunden war: Angst vor der Krankheit, aber auch Angst vor dem Sterben. Na ja, doch Angst. Also, das wäre ja knallfett gelogen, wenn ich sagen würde, ich hatte keine Angst. Ich hatte vor der Diagnose Angst, ich hatte während der Diagnose Angst, ich hatte danach Angst. Angst, glaube ich, war ein täglicher Begleiter. Aber ich habe sie klein gekriegt, indem ich darüber geredet habe. Vielleicht ist das eher die Kurve, die ich kriegen würde.


Dein Mann hat quasi diese Krankheit aber auch für sich selber wahrgenommen. Viele Alzheimer-Patienten zum Beispiel haben keine Krankheitseinsicht, aus welchen Gründen auch immer, weil sie es vielleicht wegdrücken oder auch ab einem gewissen Zeitpunkt hirnphysiologisch das gar nicht mehr hinkriegen, diese Einsicht. Es gibt einen dritten Grund noch, und der ist sehr konstruktiv: Ich finde, Alzheimer ist eine Kompensationskrankheit. Vom ersten Tag an muss man sich um Kompensation bemühen. Das sieht man ganz oft in der Rhetorik von Kranken, dass sie reden, als könnten sie dem Gespräch noch folgen, und das Umfeld sagt: „Man merkt ihm aber noch gar nichts an.“ Und der tägliche Kampf besteht, glaube ich, in der Kompensation, in der Bewahrung der Autonomie. Und wenn das sozusagen zum größten Hauptlebensinhalt wird, dann ist klar, dass ich irgendwann in diesem Autonomiekampf mich vielleicht ein bisschen verliere oder verstricke. Auch mein Mann hatte fehlende Krankheitseinsicht. Er hat jetzt nicht von Anfang an seinen Führerschein hergegeben und gesagt: „Das ist sicher vernünftig, wenn du fährst, Schatz.“


Aber ich habe mir das so hingedreht, dass ich dachte: „Schau mal, er versucht so lange wie möglich, uns ein funktionierender Familienvater zu bleiben.“ Damit konnte ich diese fehlende Krankheitseinsicht so ein bisschen übertünchen mit dem Gedanken: „Was für ein Liebesbeweis, er bemüht sich, er bemüht sich immer noch, an der Welt teilzunehmen.“ Und das hat mir geholfen, ihm nicht irgendwie mit Vorwürfen zu kommen: „Jetzt gib endlich diesen Scheißführerschein her“ oder „Jetzt sei doch mal vernünftig“ oder so. Sondern ich habe immer gedacht: „Krass, er kämpft für uns, damit wir lange in dem System noch bestehen.“ Das hat mich sehr gerührt.


Was für ein schöner Gedanke. Das ist ja im Prinzip ein gelungenes Reframing. Das heißt, das Gute in diesem Verhalten zu erkennen. Ja, ich finde den Gedanken total schön, den du da formulierst. Mein Kollege, mit dem ich zusammenarbeite, wäre jetzt an dieser Stelle wütend geworden, was er selten wird, und hätte gesagt: „Ja, aber manchmal darf man auch sagen, dass Alzheimer einfach nur eine Scheiße ist. Man muss nicht überall Glück oder noch ein kleines Geschenk darin finden.“ Das gehört genauso dazu, und deswegen – das habe ich von Ulli gelernt – muss man nicht alles reframen, aber wenn es einem mal gelingt, dann darf man die Fähigkeit, dass man es geschafft hat, auch feiern.


Definitiv. Ja. Über den anderen Aspekt, über die Wut und die Schwere und die Herausforderung der Krankheit schreibst du ja auch sehr offen, und das macht das Buch für mich ehrlich gesagt auch sehr besonders. Ich spürte wahnsinnig viel Wut beim Lesen: Wut gegenüber der Krankheit, aber auch Wut gegenüber der Gesellschaft und dieser Rolle, die du da irgendwie einnehmen musst. Du sagtest, du hast es gehasst, dieses Image der tapferen Frau zu übernehmen, und hattest du das Gefühl, dass diese Rolle von dir erwartet wird?


Ja, von pflegenden Angehörigen wird viel erwartet, aber nicht unbedingt Wut oder Trotz, sondern das soll man bitte stillleidend vollbringen. Mich hat einer mal gefragt: „Ist das das, was die Gesellschaft von dir erwartet, oder ist das das, was du dir im Blick auf die Gesellschaft selbst zuschreibst?“ Fand ich eine ganz spannende Unterscheidung. Unterm Strich macht es ja gar keinen Unterschied. Unterm Strich benehme ich mich, wie ich denke, dass es gut für mich in der Gesellschaft wäre. Aber tatsächlich lohnt einmal der Blick darauf: Sind es wirklich die anderen, die von mir ein Verhalten erwarten, oder erwarte ich von mir ein Verhalten innerhalb dieser Gesellschaft?


Und ja, wie würdest du die Frage beantworten? Wer erwartet diese Rolle von dir? Ich glaube, da muss man wirklich auf jede Einzelsituation gucken. Ich weiß, beim Thema Geld gab es ganz wahnsinnig viele nette Angebote. Das war sogar noch nach dem Tod von meinem Mann, dass mir ein Freund gesagt hat: „Du, soll ich mal, wenn du irgendwie Hilfe brauchst bei einer Kontoverweisung, ich bin für dich da.“ Und ich dachte: „Huch, Alter, also seit acht Jahren mache ich die Geldgeschäfte komplett alleine, und du willst mir jetzt zeigen, wie man eine Überweisung macht?“ Das Gleichberechtigte, was daneben steht, ist: Es war ja gut gemeint. Er wollte sich nicht irgendwie damit kleinmachen oder verhohnepipeln oder sonst wie, aber das sind so Erwartungshaltungen.


Ich fand es übrigens total heilsam und echt auch krass mutig, wie du über das Thema Geld gesprochen hast. Und ich meine, du hast da ja nicht nur Lob für bekommen, sondern es wurde ja auch quasi als Luxusproblem betitelt. Du hast einen Einblick gegeben in eure Situation in dem Buch, und es ist tatsächlich ein Thema, über das nicht gerne geredet wird, über das Geld. Und es gibt ja auch diesen Satz: „Pflege macht arm“, nicht wahr? Macht sie ja auch. Du benennst es aber und bezifferst es auch und erklärst es auch. Ich fand es beeindruckend und habe mich gefragt, wie die Reaktionen wohl waren oder wie du sie wahrgenommen hast. Ja, genauso wie du sagst: Als pflegende Angehörige ist man gut beraten, wenn man entweder sehr reich ist oder sehr arm. Alles, was so in der Mitte dazwischen liegt, ist jetzt nicht unbedingt ein großer Segen. Wenn man sehr arm ist, dann greift der Staat ein. Das ist unser Gesundheitssolidarprinzip, was ich ja auch wahnsinnig gut und gerecht und sinnvoll finde. Wenn man sehr reich ist, dann kann man sich alle Pflege, die man braucht, dazukaufen. (In Klammern: Da müssen wir wirklich von „sehr reich“ sprechen.) Aber für die Mittelschicht, die dazwischen liegt, bedeutet es ein Rechnen können, sagen wir so, ein Rechnen-Können. Darüber offen zu reden ist deswegen so schwierig, weil einem oft unterstellt wird: „Wie willst du denn jetzt in Mark und Pfennig die Krankheit vermarktwirtschaften?“


Aber man kann, sozusagen die Mediziner sagen, man kann Läuse und Flöhe haben. Also, man kann Sorgen um einen kranken Angehörigen haben und Geldsorgen. Das geht beides. Zumal das ja in deiner Situation auch noch sehr besonders war. Alzheimer ist, wir haben es eingangs schon gesagt, stark mit dem Alter konnotiert, und das betrifft eben einfach – weil Alter ein Risikofaktor ist – Menschen häufig jenseits der 65 und vielleicht dann eben auch nicht mehr im Berufsleben stehend. Aber eure Situation war ja komplett anders. Das heißt, hier mussten noch drei Kinder versorgt werden. Letzten Endes ist das Gehalt deines Mannes weggefallen. Damit war es natürlich auch eine besondere Herausforderung, und das aber auch zu benennen ist völlig richtig, und auch laut und hörbar zu benennen ist auch völlig richtig. Nur ich fand halt einfach die Reaktionen darauf auch krass.


Ja, aber vielleicht denken die, die so eine Reaktion schreiben, auch gar nicht in allererster Linie: „Huch, wie würde ich mich fühlen?“ Sondern die sind von der Brutalität, mit der ich das ausgesprochen habe, was eigentlich unaussprechlich ist, eher ein bisschen provoziert. Und daher kommt das. Die meinen gar nicht mich als Person, die meinen auch nicht mich als Einzelschicksal. Die meinen die Brutalität und die Offenheit dieser Geschichte. Ich denke da einfach ganz viel auch an Sätze, die ich von anderen pflegenden Angehörigen höre, insbesondere auch von Frauen, nicht wahr? Man ist öffentliches Gut als Pflegende, man wird auch bewertet: „Macht man das gut?“ oder vielleicht auch darauf reduziert auf die Pflege. Und in dem Kontext höre ich da auch manchmal so Verzweiflung so nach dem Motto: „Hallo, ich bin auch noch jenseits der Pflege jemand!“ Dieses von außen begutachtet und bewertet zu werden: „Macht sie das alles gut und richtig?“ Finde ich schwierig, und da ist man wahrscheinlich auch oftmals schutzlos oder verletzlich.


Und interessanterweise habe ich festgestellt, dass – da bin ich jetzt mal unfeministisch – Frauen deutlich unsolidarischer mit pflegenden Angehörigen umgehen. Ich weiß, dass der Neurologe von meinem Mann mir relativ zu Beginn der Krankheit einen Rat gegeben hat. Da bin ich ihm erstmal mit dem nackten Arsch ins Gesicht gesprungen, aber heute weiß ich, was er damit meinte. Er sagte, was Sie jetzt brauchen, ist jeden Abend ein Glas Rotwein, einen Geliebten und die ganz klare Konsequenz, niemals nachdenken zu wollen. Sie müssen sofort abschalten. Und ich trinke keinen Alkohol. Ich habe auch keinen Geliebten gehabt in der Zeit, und das mit dem Grübeln ist auch nicht so mein Ding. Aber was er mir sagen wollte, war: „Verschon dich selbst mit diesen Moralisierungen. Lass zu, wenn dir irgendetwas Gutes widerfährt. Und wenn du tatsächlich diese Jahre nur schaffst, wenn du jeden Abend ein Glas Rotwein trinkst, ja, dann ist es gesundheitlich vielleicht nicht ganz so gesund, aber drauf geschissen!“


Und kümmer dich eben nicht um irgendwelche Konventionen, die vermeintlich von außen kommen, sondern nimm das, was du brauchst, um gut durch die Zeit zu kommen. Ich war wirklich empört damals, weil ich gedacht habe: „Wir haben eine intakte Ehe. Was redest du da?“ Die Erlaubnis, einfach das zu machen, was ich brauche, um durchzukommen, die habe ich tatsächlich, muss ich sagen, in all den Jahren eher von Männern bekommen als von Frauen. Interessant. Ja, das klingt nach einem sehr pragmatischen und sehr wohltuenden Arzt irgendwie. Und was ich mich gerade frage, Anja und auch Katrin, ist dieser Unterschied einfach zwischen Männern und Frauen als pflegende Angehörige oder als Angehörige: diese unterschiedliche Zuschreibung, aber auch unterschiedliche eigene Umgang. Du hast das Grübeln angesprochen und diese Schuldgefühle, die Frauen vielleicht viel, viel mehr haben als Männer. Wie hast du das wahrgenommen, Katrin? Gab es tatsächlich Unterschiede zwischen Männern und Frauen beim Pflegen?


Dass Männer weniger Schuldgefühle haben, wenn sie ihre Angehörigen pflegen als Frauen – das würde ich erstmal hinterfragen wollen, weil ich mir vorstellen kann, dass der Grad der Schuldgefühle gleich groß ist, aber Männer damit nicht so nach draußen gehen. Das würde ich jetzt nicht bestätigen wollen. Was aber tatsächlich... erst einmal gibt es einen großen Überhang an weiblich pflegenden Angehörigen, rein weg durch die Statistik. Frauen heiraten oft ältere Männer. Männer sterben statistisch gesehen früher, also werden Männer von Ehefrauen gepflegt und Frauen später von ihren Kindern. Rein statistisch. Ich finde, der Unterschied ist eher, wie geht man damit um? Ich habe mal ein bisschen literarisch geguckt. Im Märchen heißt es ja immer: „Über das Jahr nahm der König sich eine neue Frau.“


Und wenn man aber dann im römischen Recht nachguckt, da war es der Frau verboten, im ersten Jahr wieder zu heiraten, nachdem sie Witwe war. Interessante Frage: Warum? Na, der König brauchte die Frau, um ihn zu versorgen, oder? Ja, der König brauchte sie wahrscheinlich auch zum Repräsentieren. Und die Frau im römischen Recht, die konnte wieder schwanger werden, und man wusste dann nicht genau, von wem das Kind kam. Deswegen war das dann eine klare Zeitsperre. Und ein Freund hat mir am Anfang der Krankheit gesagt: „Weißt du, ich würde nicht wollen, wenn ich dein Mann wäre und wenn ich krank wäre, dass du mich krank so ertragen musst. Ich würde lieber wollen, dass du mich früh in ein Heim abgibst, weil mir das wichtig wäre, dass ich gesund und stark in deiner Erinnerung bleibe.“ Und Frauen, glaube ich, für die ist es am schönsten, wenn sie sozusagen als Liebesdienst auch noch dieses Tragödlein in den Tod begleiten dabei haben. Blöderweise ist es ja jetzt genau umgekehrt: Frauen pflegen Männer und Männer Frauen. Das heißt, Männer bringen vielleicht auch deswegen einen Tag früher ihre kranken Angehörigen in eine Einrichtung, nicht weil sie ein mangelndes Verantwortungsgefühl haben – das glaube ich nicht –, sondern weil sie mit so einem ganz großen archaischen Denken daran gehen, wie die Elefanten, die sich aus dem Rudel zurückfallen lassen. Das fand ich interessant, als mir der Freund das gesagt hat, weil ich dachte: „Guck mal, interessant. Für mich wäre das gar nicht erstrebenswert, mich frühzeitig aus meiner Familie absentieren zu wollen.“


Du sprichst ja damit auch ein Thema an, was ja bei euch auch eine Entwicklung genommen hat: dieses auf jeden Fall zu Hause pflegen, dann diese Entscheidung, dass dein Mann in eine Einrichtung umzieht. Wie war das bei euch? Wann war dieser Punkt? Wahrscheinlich klassisch wie bei fast allen anderen. Die Ärzte haben mir gesagt, anderthalb Jahre zu spät. Ich würde heute sagen, es war genau der richtige Zeitpunkt. Wir haben es bis zur Neige ausgeschöpft. Wir haben wirklich so lange meinen Mann bei uns zu Hause gehabt, bis wir tatsächlich alle fünf nicht mehr konnten. Und das war gut, weil es ab da auch kein Hinterfragen mehr gab, ob es noch länger hätte gehen können.


Letztes Wochenende, bevor er in ein Heim kam, hat meine Nachbarin noch auf ihn aufgepasst, weil ich mit den Kindern im Kino war. Und der Film hatte eine scheiß Überlänge, ich weiß es noch, das war Elvis. Und es ploppten immer mehr diese WhatsApp-Nachrichten rein: „Komm sofort nach Hause. Das kriegen wir hier gar nicht mehr hin. Jetzt ist wieder was passiert. Jetzt blutet er.“ Und als ich dann hinterherkam, sagte sie: „Falls du jemals hinterfragen wollen würdest, ob es der richtige Zeitpunkt ist, dann rufst du mich bitte an, und ich werde dir glashart sagen: Es war der richtige Zeitpunkt.“


Aber vielleicht geht es nicht um die Frage, einen richtigen oder einen falschen Zeitpunkt, sondern irgendwann kommt der Zeitpunkt und ist da, und dann ist er so alternativlos. Trotzdem fand ich deinen Satz: „Ein Heim kann auch eine Erlösung sein“ so wohltuend. Ich finde, das ist ja irgendwie auch so ein großes Tabu oder eine von diesen Konventionen: „Zu Hause bleiben und wir wollen zu Hause sterben und so lange wie möglich zu Hause pflegen.“ Und man versucht es irgendwie zu ermöglichen und tut damit vielleicht niemandem mehr wirklich irgendwann etwas Gutes. Das zu lesen hat mir sehr gutgetan.


Ich muss mal umgekehrt sagen, da hatten wir wirklich, wirklich Glück mit dem Schicksal. Wir waren in einer sensationellen Pflegeeinrichtung in Hamburg, und ich scheue mich jetzt auch nicht, einfach mal den Namen „Pflegen und Wohnen“ auszusprechen. Der hat mir sehr, sehr geholfen, und wenn es nur einem einzigen Podcast-Hörer gelingt, dann ebenso erleichtert zu sein, dann hat sich das Interview für mich jetzt gelohnt. Diese Pflegedienstleitung aus dem Heim, die kam einfach eine Woche vorher zu uns nach Hause und saß dann zwei, drei Stunden bei uns im Wohnzimmer, guckte mit meiner Tochter sehr, sehr schlimme amerikanische Serien, kraulte den Hund, sprach mit meinem Mann und beobachtete sehr genau, was er braucht, wenn er aufgeregt ist: welche Ansprache, wie reagiert er darauf, was bringt ihn denn schnell in die Ablenkung, in die gute Ablenkung? „Ah, der isst also viel Süßkram, Schokoladenpudding, dann müssen wir darauf achten, dass er genug Pudding hat, wenn er zu uns kommt. Ach, das ist ein großes Haus mit vielen Leuten. Dann ist wahrscheinlich ein Gemeinschaftsraum für ihn gar nicht bedrohlich oder voll laut, sondern ganz vertraut. Ach, guck mal, hier hängen viele Bücher und viele Bilder rum. Vielleicht müssen wir das Zimmer eher laut und bunt und lustig haben und nicht reduziert.“ Und diese Pflegedienstleitung hat mir einen sehr wichtigen Satz gesagt. Sie sagte: „Es wird bestimmt irgendwann der Zeitpunkt kommen, wo irgendetwas nicht in Ordnung ist, wo Sie das Gefühl haben werden: Ich muss mal mit der Heimleitung oder mit irgendjemandem reden. Sie dürfen eine Nacht darüber schlafen, aber nicht zwei. Kommen Sie bitte ganz früh zu uns, wenn Sie irgendwelche Bauchschmerzen haben. Kommen Sie früh zu uns, wenn Sie irgendwelche blöden Gefühle haben.“ Und diesen Satz, den kann ich heute zwei Jahre nach seinem Tod immer noch hersagen, und deswegen bin ich denen auch so dankbar, weil das für mich ein Heimkonzept war, was wirklich spektakulär und neu war.


Hört sich nach einer ziemlich coolen Geschichte an. Ich hoffe, viele Einrichtungsleitungen hören jetzt genau diesen Podcast und schneiden sich davon etwas ab. Auch Pflegedienstleitungen, die nämlich häufig einen sehr, sehr, sehr guten Job machen. Ich habe ihre Handynummer gekriegt. Sie sagte, ich dürfe sie Tag und Nacht anrufen. Auch das versucht man tunlichst nicht zu missbrauchen. Aber was für ein unfassbares Geschenk! Ja, das klingt nach einem sehr guten Nest, wie Anja das ja oft sagt, wenn es um das Heim ihrer Mutter geht, ein gutes Nest, das ihr da für euren Mann gefunden habt. Und ich erinnere mich auch an die Stellen im Buch, wo ich glaube, deine Tochter oder dein Sohn war, der sagt: „Das ist das Haus, wo der Papa immer getanzt hat.“


Er war ja nicht sehr lange in der Einrichtung, ich glaube nur sechs Wochen. Aber tatsächlich hat er zum Ende seines Lebens das Tanzen ein bisschen entdeckt und kam mir tanzend entgegen, was natürlich eine unfassbare Entlastung war, weil ich dachte: „Krass, krass, also wenn das jetzt gerade dein Eindruck ist, wie du dich fühlst, dann ist hier alles richtig.“ Er hat ja nicht nur das Tanzen für sich entdeckt, er hat ja letzten Endes auch in dem ganzen Weg mit der Erkrankung noch etwas anderes gefunden: das künstlerisch tätig sein. Du sagst zwar, das hätte er wahrscheinlich so von sich nie behauptet, aber die Geschichte finde ich schon auch noch sehr erwähnenswert. Vielleicht kannst du noch ein bisschen was davon erzählen, von dem Totholz, das dein Mann ja für sich entdeckt hat.


Die Geschichte fing eigentlich an, dass ich meinem Sohn und ihm einen Schnitzkurs geschenkt habe, weil ich dachte, das ist einfach etwas, was ein Sohn mit seinem Vater gemacht haben muss. Und dann kamen sie mit einem sehr monstruösen Totem nach Hause, der seitdem auch bei uns im Garten steht. Mark hat aber gar nicht die Beitel aus der Hand gelegt, sondern fing einfach immer an, Stöcke, die er so fand, zu bearbeiten. Erst bei uns im Garten, dann im Nachbargarten, dann im Wald. Ich glaube, dann war er der beste Freund des Försters, weil er wirklich jeden Stock mitgenommen hat. Der Einzige, der so ein bisschen schnippisch reagierte, war unser Hund, weil er immer dachte: „Das ist voll ungerecht. Du kriegst so viele Stöcke mit und ich nicht.“ Also, dann kam er mit Stöcken nach Hause und hat die Rinde auf eine ganz eigene Art bearbeitet. Und meine Nachbarin, von der ich schon erzählt habe, die ist gelernte Portraitfotografin, und die hat irgendwann angefangen, diese Stöcke zu fotografieren. Dann wurde daraus so ein Projekt: die Stockkunst. Und mich hat es wahnsinnig gerührt, dass er dann tatsächlich in dieser Tätigkeit noch mal Erfüllung gefunden hat. Und eines Tages kam eine Freundin von mir, die gute Therapeutin ist, und sagte: „Ja, das ist voll krass, das musst du mal probieren. Katrin, fang mal an und mach genau das Gleiche, was er macht. Man verlernt in dem Moment das Grübeln und Denken. Man muss sich darauf konzentrieren, in welche Richtung der Beitel will. Man muss sich darauf konzentrieren, wie schütze ich die andere Hand, dass ich mich nicht schneide. Man muss sich auf den Druck konzentrieren, den man mit der Hand ausüben will.“ Also, und über all diese Sachen verlernt man das Grübeln. Und das hat mir so ein bisschen gezeigt, warum er sich da den tausenden Stöcken verloren hat. Das hätte auch sicher etwas anderes sein können. Ich kann mir vorstellen, vielleicht ist es beim Brotteigkneten ein ähnliches Verlieren.


Beim Malen oder was auch immer, aber eine Tätigkeit zu finden, die Grübel-Erlösung verspricht, das fand ich doch sehr fein. Ja. Und das hört sich sensationell an, und da schließt sich auch ein bisschen der Kreis zu dem, was du eingangs gesagt hast, nicht wahr? Also dieses sich anstrengen müssen, eigentlich in der Vermeidung zu sein und nach wie vor das leisten zu wollen, also beispielsweise die Rolle des Vaters einzunehmen. Da kann ich mir vorstellen, dass solche Inseln auch für deinen Mann gut waren. Du hast ja auch mal die Frage gestellt, ob vielleicht auch Alzheimer-Patienten Burnout bekommen können, in dem Buch? Fand ich übrigens eine sehr spannende Fragestellung, weil ich glaube, Menschen mit Demenz sind einfach auch in hohen Anstrengungen, um letzten Endes ihre eigene Identität zu erhalten.


Ja, das ist dieses Kompensieren. Und das ist mir irgendwann mal auf dem Elternabend aufgefallen, dass ich dachte, wir können so die unterschiedlichen Welten wechseln. Sie müssen sie ja zwangsweise immer wieder wechseln. Aber der Kranke ist mit seiner Krankheit immer – also die Krankheit ist ja immer dabei, immer. Das hat mir noch mal diese enorme Leistung gezeigt, die die Kranken auch jeden Tag absolvieren, ohne dass wir Angehörigen das vielleicht immer so bemerken oder quittieren. Der Kranke kann sich von seiner Krankheit nie erholen.


Und das finde ich einen sehr spannenden Aspekt. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass es ja aber auch nicht nur dieses Handwerken deines Mannes war, sondern auch letzten Endes – und das haben wir auch schon eingangs gesagt – der Freundeskreis und auch der offene Umgang mit der Erkrankung. Ihr habt ja, das steht auch in deinem Buch, zum Beispiel Liederabende gemacht. Ja, jeder bei uns hat das gegeben, was er konnte. Und eines Tages haben wir ein großes Fest gefeiert, und meine Tochter hat da auf der Ukulele für ihren Vater ein Lied gespielt. Die Stimmung war so sensationell, dass wir gedacht haben: „Auch das machen wir mal weiter.“ Einmal im Monat, einmal im Monat koche ich für 15, 20 durchgeknallte Sänger und Sängerinnen, die alle mit ordentlichem Hunger ankommen und dann singen. Am Anfang waren das noch so schlimme Lieder wie „Im Wagen vor mir sitzt ein junges Mädchen“. Meine Tochter fragte dann ganz indigniert: „Habt ihr das wirklich früher gehört? Gab es da noch kein YouTube?“ Das Repertoire hat sich dann auch so ein bisschen verändert, aber die Musiker haben ganz schnell mitbekommen: Wahnsinn, wie Mark auf die Musik reagiert! Das waren so kurze Momente des Feierns, des unvernünftigen Feierns, weil es immer rauschende Mengen von Alkohol auch dazu gab. Es war für so einen Abend ein Rausch.


Makaber gesagt, hat sich keiner getraut, nachdem Mark im Heim war, zu sagen: „Komm, das brechen wir jetzt hier ab, das lohnt ja nicht mehr.“ Und dann ist etwas Eigenartiges passiert: Wir haben alle gemerkt, dass wir eigentlich dachten, für ihn diesen Liederabend zu machen, und dann aber irgendwann feststellen mussten, wir machen das auch sehr für uns, weil diese Gemeinschaft uns einfach so trägt und Freude bereitet. So führen wir das fort, einmal im Monat. Und wenn wir sehr, sehr lustig drauf sind, dann singen wir auch immer noch „Im Wagen vor mir sitzt ein junges Mädchen“, aber jedes Mal rennen meine Kinder dann stürmisch in die verschiedenen Richtungen Hamburg – nur weg, nur weg von diesem sehr, sehr peinlichen Elternhaus!
Ja, kann man irgendwie nachvollziehen. Mich würde noch interessieren, die Rolle deiner Kinder. Ich finde, das ist als Mutter ja so: Einerseits versucht man die Kinder immer zu beschützen, andererseits sollen sie teilhaben. Was für eine Rolle haben sie für dich gespielt und auch für deinen Mann? Wie weit habt ihr sie einbezogen, wovor vielleicht aber auch geschützt? Oh, das „geschützt“ ist eine gute Frage. Also einbezogen kann ich ganz klar sagen: Wir haben ihnen von Anfang an erzählt, was los ist. Das hat Mark noch selber gemacht. Er war Mediziner. Das war seine Aufgabe und seine Rolle. Geschützt habe ich, glaube ich, meine Kinder vor gar nichts. Wenn ich geheult habe, haben sie das gesehen, weil ich immer gedacht habe, ich fand das furchtbar als Kind, wenn ich nur so ein Gefühl hätte, aber nicht wusste, warum. Ich habe ihnen alles irgendwie kindgerecht natürlich anvertraut und erzählt und erklärt. Was jetzt Alzheimer im Einzelnen bedeutet, hat Mark ihnen nicht gesagt, aber er hat meiner Tochter damals, die war acht, erklärt: „Stell dir vor, du bist auf so einer Waldlichtung und da liegt ein roher Stapel Papier. So ähnlich ist es mit meiner Krankheit auch. Die Erinnerungen, die ganz oben liegen, die werden als Erstes weggepustet, und wenn kein Blatt mehr da ist, ja, dann sterbe ich.“ Und so hat sie das, finde ich, sehr offen erzählt bekommen. Und gleichzeitig hat es aber auch noch so eine kindliche, fast märchenhafte Anmutung bekommen. Ich finde, man muss jetzt nicht irgendwie mit medizinischem Fachvokabular um sich werfen. Das wäre nicht kindgerecht.


Aber wenn du fragst, wovor habe ich meine Kinder beschützt? Ja, ich kann dir sagen, es gab eine Sache: Als er ganz am Ende im Heim war, da wollte ich von jedem Kind, dass es ihn einmal besucht, einmal sieht, wie er froh und heiter und gelassen – vielleicht ist gelassen das richtige Wort – wie gelassen er im Heim ist. Aber danach habe ich mir vorgenommen, von keinem zu verlangen oder zu erwarten, dass sie ihn besuchen müssen. Mir hat gereicht, dass sie einmal eine Verortung hatten. Sie sind dann trotzdem gekommen, aber das hätte ich nicht von ihnen verlangt. Gut. Nachvollziehbar. Wertvoll, das zu hören. Mich würde jetzt tatsächlich interessieren: Ich meine dieses Buch, ich habe es gelesen, und ehrlich gesagt, ich war von Seite eins bis zur letzten Seite begeistert, irgendwie berührt auch durch die offene, manchmal schonungslose Art und Weise, wie du Dinge benennst und was für einen ehrlichen Einblick du in viele Themen gibst. Mich würde jetzt interessieren, wie reagieren denn die Menschen auf dich und auf dein Buch? Was kriegst du denn für Reaktionen?


Als allererstes ist es gar nicht unbedingt ein Buch nur über Alzheimer, sondern eigentlich ist die Krankheit ja auch austauschbar. Wenn jemand Parkinson hätte oder wenn jemand eine final bedrohliche Krebsdiagnose hätte, wäre das sicher ähnlich. Und ich habe versucht, in dem Buch auch mindestens ebenso schonungslos mit mir umzugehen wie mit dem Umfeld, in dem ich lebe. Ich wollte jetzt nicht die empörte Angehörige sein, sondern auch durchaus die, die mit ihren eigenen Schwächen reflektierend einen Schritt vor die Haustür tritt. Und ich kriege viele – das erstaunt mich tatsächlich – viele, viele, viele Leserbriefe auf das Buch. Ich weiß, das sagt man immer nach solchen Veröffentlichungen, aber die sind zum Teil 10 und 15 Seiten lang und beschämen mich sehr, weil es mir zeigt, dass es etwas bei den Lesern zum Klingen bringt, was ich gar nicht so planen konnte. Und wenn jemand 15 Seiten Zeit hat, mir zu schreiben, ohne zu wissen, ob ich antworte, dann beschämt mich das geradezu und rührt mich sehr.


Und dann gibt es aber natürlich auch – das gehört auch dazu – Freunde oder Bekannte oder wer auch immer, der ganz klar sagt: „Ich könnte das nicht. Ich könnte das nicht, mir die Haut so vom Leib zu reißen und sie in Wörter zu packen und zwischen zwei Buchdeckeln zu pressen. Ich würde lieber das Private privat halten.“ Und ich finde, da stehen wir beide Haltungen gleichberechtigt gegenüber. Das Spannende ist immer, dass in einer Familie meist beide Haltungen nebeneinander existieren. Also, mein zweiter Sohn hätte sehr gut auch weiterleben können, ohne dass ich ein Buch veröffentlicht hätte. Der möchte das lieber für sich ausmachen. Und das hat genauso seine Berechtigung. Das Schwierige ist das Aushandeln. Dem einen hilft das Reden darüber, dem anderen hilft das Schweigen darüber. Und wie findet man einen guten Weg, der für die Familie, für das System und für die Individuen gut tragbar ist? Ich weiß, aber ich habe mein ganzes Leben lang immer geschrieben, und deswegen war das wahrscheinlich für mich alternativlos. Ich musste darüber auch schreiben. Und die ersten Geschichten, die hat mein Mann noch gegengelesen. Weil er alle Geschichten von mir immer als Erstes gelesen hat. Seitdem ich ihn kenne, sind alle Geschichten sozusagen über seinen Schreibtisch gewandert, und es ist mir eine große Genugtuung, dass er sozusagen seinen Segen mir zu diesen Geschichten gegeben hat.


Cool, danke dir. Ja, wie gut. Sonst hätten wir dein Buch vielleicht nicht, oder? Hätte ich es nicht gut gefunden, hättet ihr das Buch nicht. Ja, danke Mark. Genau, was wir ganz oft unsere Gäste am Ende fragen, jetzt so im Rückblick mit der ganzen Erfahrung der vergangenen Jahre: Gibt es etwas, was du anders machen würdest, oder was du gerne früher gewusst hättest? Ja, gibt es. Und tatsächlich hat das mit dem Schnitzen zu tun. Wenn ich früher gewusst hätte, welche heilsame Kraft die Kreativität in einem solchen Krankheitsprozess hat, dann hätte ich die wahrscheinlich noch früher herausgeholt und gefördert. Wir sind, glaube ich, sehr kreativ damit umgegangen. Mein ältester Sohn hat ja auch ein Buch geschrieben über die Erkrankung meines Mannes. Ich habe ein Buch geschrieben, Mark hat geschnitzt. Wir haben diese Liederabende gemacht. Wir haben uns, glaube ich, immer einen Ausdruck gesucht.


Über diese unglaubliche heilende Wirkung dieses Ausdrucks habe ich wenig vorher erfahren. Man hört immer von Selbsthilfegruppen, und ich würde mir, glaube ich, auch wünschen, dass es tatsächlich Angehörigenschulen gäbe, die Angehörigen und Kranken beibringen, genau diesen Ausdruck zu finden. Denn für den einen ist es die Fotografie, für den anderen ist es das Kochen, für den dritten wäre es das Schreiben. Es ist sozusagen ganz egal, welchen Ausdruck man findet. Aber da ist noch ein bisschen Nachholbedarf, Nachschulbedarf da. Und ehrlicherweise, die Stöcke, die wir ja auch... Wir haben nicht alle aufgehoben, auf gar keinen Fall. Wir haben eine Minderheit davon aufgehoben, aber die sind mir doch ein sehr heiliger Schatz, und ich würde sie sofort aus dem brennenden Haus retten, wenn ich nur zwei Sachen mitnehmen dürfte.


Ja, danke, Katrin. Das ist gerade für mich Geschenk und Impuls. Das höre ich einfach auch als diesen Wunsch von dir, weil ich denke, das ist eben letzten Endes auch etwas, was sich Desideria auf die Fahne schreibt: danach zu suchen, was in der Angehörigenarbeit hilft. Und Peggy, du hast auch schon Schreibworkshops gemacht und wir haben mit Hauke Dressler über Fotografie gesprochen, aber das nehme ich jetzt gerade noch mal als wertvolles Geschenk von dir mit. Danke. Ja, vielen Dank. Gerne. Dann lassen wir es mal so stehen.


Vielen Dank, dass du unser Gast warst. Ja, vielen, vielen Dank. Ich freue mich unglaublich über dieses Interview mit dir und vielleicht noch so zwei, drei andere Sachen, die bei uns gerade so am Laufen sind. Ich glaube, die Impulsworkshops haben wir schon mal angesprochen. Ich möchte sie an dieser Stelle hier aber trotzdem noch mal erwähnen, weil jetzt einfach interessante Themen kommen. Einmal Palliativ – finde ich auch ein wichtiges Thema. Gerade wenn es um die Begleitung ganz am Ende geht, da haben wir Brigitte bei uns als Gast, und wir werden zwei Stunden darüber reden in kleinen und großen Gruppen.
Genau. Und unabhängig davon gibt es ja weiter eure Angehörigengruppen, Schulungen und auch die Demenzbudies gehen im Herbst in eine neue Runde, nicht wahr? Ja, vielleicht auch ganz interessant hier an dieser Stelle, weil es eben die jungen Pflegenden gibt, die in ihrem direkten oder indirekten familiären Umfeld Menschen mit Demenz begleiten. Und hier haben wir einfach eine Gruppe, die sich online bundesweit monatlich trifft, und da kann man eben im Herbst auch wieder einsteigen. Also, wer da jemanden kennt, kann gerne den Hinweis auf die Demenzbudies von Desideria geben.


Ja, vielen Dank an Valentin Ramm, unseren Mann hier im Tonstudio. Dann danke euch fürs Zuhören. Ich hoffe, ihr seid beim nächsten Mal wieder dabei und leitet unsere Folgen gerne an andere Interessierte und auch an andere pflegende Angehörige weiter. Und die findet ihr alle auch auf unserer Website www.lebenliebenpflegen.de, und dort gibt es zum Beispiel auch Worksheets, die euch bei bestimmten Themen helfen, das einfach noch für euch selber zu vertiefen.

Alles klar. Dann eine gute Zeit bis zum nächsten Mal. Tschüss. Ciao. Tschüss

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