Wie mit Wut umgehen?
Transkript zur Folge
Leben. Lieben. Pflegen. Der Desideria Podcast zu Demenz und Familie
Peggy: Wir sprechen in dieser Folge über Wut. Viele kennen dieses Gefühl, gerade auch im Pflegealltag, aber kaum einer redet darüber. Dabei ist es so wichtig. Ich bespreche mit meinem Gast Anja Kälin, warum Wut und aggressives Verhalten im Alltag mit Demenz auftreten können, und wir werden konkrete Strategien aufzeigen, um besser mit Wut umzugehen.
Herzlich willkommen zu Leben, lieben, pflegen – der Desideria Podcast zu Demenz und Familie. Mein Name ist Peggy Elfmann. Ich bin Journalistin und pflegende Angehörige. Hier im Podcast spreche ich mit verschiedenen Gästen über Themen, die Angehörige und Pflegende beschäftigen. Ich möchte Lösungen für Herausforderungen finden und euch so Wissen und Anregung für euren Alltag geben.
Mein heutiger Gast ist Anja Kälin. Wer uns schon länger hört, kennt Anja natürlich. Wir haben den Podcast Leben, lieben, pflegen gemeinsam gestartet und zu dem gemacht, was er heute ist. Allen anderen stelle ich Anja noch mal vor: Anja ist Familiencoach und Mitgründerin von Desideria. Sie kennt das Thema Demenz auch aus der eigenen Familie und hat ihre Mutter lange gepflegt. Bei Desideria leitet sie verschiedene Angehörigengruppen und hat auch eine Gruppe für junge Pflegende ins Leben gerufen – die Demenzbuddies. Ich freue mich sehr, dass du da bist, liebe Anja.
Anja: Hallo. Ich freue mich auch sehr.
Peggy: Doch bevor wir anfangen, möchte ich noch Danke sagen. Ein großer Dank geht an die Landhausküche von Appetito. Sie unterstützt die Produktion dieser Folge. Die Landhausküche ist ein Mahlzeitendienst speziell für Senioren. Die Menüs werden euch täglich oder auch nur bei Bedarf geliefert. Mit der Landhausküche habt ihr somit täglich eine Sorge weniger. Du selbst oder dein Angehöriger sind immer sicher versorgt. Das Ganze gibt es ohne Mindestbestellwert und ohne Vertragslaufzeit, dafür aber mit Schutzengelfunktion. Mit dem Code Desideria10 erhaltet ihr als Neukunden Rabatt bei der Landhausküche. Mehr Infos und auch den Code verlinken wir in den Shownotes.
Ja, liebe Anja, das Thema Wut haben wir ja schon immer mal so mitbesprochen. Das steht schon länger auf unserer Agenda, erinnere ich mich. Und ich habe das Gefühl, das ist so eines dieser Tabuthemen. Also jeder, sage ich jetzt mal so, kennt das Gefühl, wütend zu werden, sauer zu werden, weil im Pflegealltag irgendwas nicht funktioniert – und natürlich auch die Angehörigen, also Menschen mit Demenz, erleben diese Phase. Manche mehr, manche weniger. Aber ich habe das Gefühl, da spricht kaum einer drüber. Erlebst du das auch so? Wie nimmst du das aus Angehörigengruppen wahr?
Anja: Ja, das ist eine spannende Frage. Tatsächlich ist es so, dass ich den Eindruck habe, dass eigentlich jeder pflegende Angehörige Situationen kennt und sich auch erinnern kann, in denen er ärgerlich oder wütend wurde. Das wird auch berichtet, aber häufig erst spät – beispielsweise, wenn wir eine Gruppe haben und schon lange sprechen, dann kommt es so am Ende noch nachgeschoben: „Ja, und manchmal macht es mich einfach auch wütend.“ Und dann ist häufig gar nicht mehr der Platz da, um dem Thema noch Raum zu geben. Insofern habe ich tatsächlich das Gefühl, es ist ein sehr verdruckstes, schwieriges und vielleicht auch schambesetztes Thema.
Peggy: Das klingt, als ob da sehr viel Scham mit einhergeht – so diese Erwartung: „Eigentlich darf ich doch nicht wütend sein. Und ich bin’s. Und ich schäme mich deswegen.“
Anja: Genau. Und ja, ich denke, es ist wichtig, dass wir dem einfach Raum geben und mal drüber nachdenken, wo das Thema Wut eigentlich herkommt.
Peggy: Ja, genau. Das wollen wir heute machen. Lass uns doch mal vorne anfangen – vielleicht bei den Angehörigen, bei den Menschen mit Demenz. Da höre ich von vielen immer wieder: Es ist schwierig. Oder man liest von einzelnen Geschichten. Und ich habe auch diese Erfahrung in den letzten Monaten häufiger gemacht, dass mein Papa, eigentlich ein sehr ruhiger, besonnener, eloquenter Mensch, ganz wütend wird. So richtig laut wütend. Wie ich es noch nie kannte, aus unserem gemeinsamen Leben. Und es war auch gar nicht immer ersichtlich, für mich war’s einfach: Was ist jetzt los? Ist das eine typische Reaktion, die Menschen mit Demenz zeigen?
Anja: Was ich da ganz hilfreich finde, ist, sich vorzustellen – also letzten Endes sich in die Schuhe der Erkrankten zu begeben. Und da gibt es ja verschiedene Phasen der Demenz. Und jeder dieser Abschnitte ist auch mit einem bestimmten Erleben verknüpft. Gerade am Anfang, wenn man merkt: Alltagskompetenzen verschwinden, ich komme mit Dingen, die ich immer gut konnte, nicht mehr klar – das fühlt sich wahrscheinlich an wie Scheitern. Oder man kommt in eine Verzweiflung, weil Dinge nicht mehr so klappen, wie man es gewohnt war. Das löst Frust aus. Und wenn ich immer wieder im Alltag frustriert werde, weil etwas nicht klappt, dann werde ich irgendwann wütend. Wenn man sich diese Brille aufsetzt, kann man das sehr gut nachvollziehen – dass dann auch geschimpft oder frustriert reagiert wird.
Genauso ist es dann auch in einer fortgeschrittenen Demenz – da geht es oft um Orientierungslosigkeit oder auch Schutzlosigkeit. Und in diesem Erleben steckt eventuell auch schon die Ursache für Wut oder Ärger.
Peggy: Das ist spannend. Ich dachte nämlich, dass diese wütenden Reaktionen eigentlich nur in der frühen Phase auftauchen, wo ja auch eine Orientierungslosigkeit oft besteht. Aber das ist dann gar nicht so?
Anja: Ich glaube, es taucht in allen Phasen auf. Dieses Verhalten ist natürlich auch abhängig von der Demenzform und dem Verlauf – also: In welcher Phase steckt die erkrankte Person gerade? Und dann ist es auch situativ unterschiedlich und abhängig von der Persönlichkeit. Wenn ich ein Mensch bin oder war, der schon immer impulsiv oder ärgerlich reagiert hat, kann es sein, dass sich das in der Demenz weiter zeigt. Es gibt aber auch Verläufe, in denen aggressives Verhalten wieder abnimmt. Es gibt also keinen typischen oder immer gleichen Verlauf und auch keine gleichbleibende Reaktion. Ich glaube, es hängt auch ganz stark davon ab, wie das Umfeld mit dieser Reaktion umgeht.
Peggy: Ja, lass uns mal noch auf das Umfeld als Ursache schauen. Die Reaktion kommt ja nicht von irgendwoher, sondern hat eine Ursache. Welche Rolle spielen da die Angehörigen oder auch deren Reaktionen und Aussagen?
Anja: Genau darum geht’s – zu sehen: Ich komme eventuell auch in eine Dynamik rein. Wenn dein Papa also wutschnaubend dasteht und sagt: „Wo ist mein Schlüssel?“ oder sich beschwert, dass etwas nervt oder alles schiefläuft, dann kann es sein, dass du zum Beispiel versuchst zu beschwichtigen oder dagegenhältst. „Papa, so schlimm ist es doch gar nicht.“ Und das kann dann wie Öl ins Feuer wirken. Dann wird er womöglich erst recht wütend. Also: Wie kann ich dem anderen helfen, aus seiner Wut wieder rauszukommen? Dafür gibt es unterschiedliche Strategien – zum Beispiel Verständnis zeigen: „Ich kann das verstehen, das würde mich wahrscheinlich auch wütend machen.“ Oder gemeinsam eine Lösung suchen: „Komm, ich helfe dir suchen.“ Oder ablenken: „Den Autoschlüssel brauchen wir gerade eh nicht, lass uns rausgehen.“ Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie man mit so einem Verhalten umgehen kann.
Peggy: Über die Strategien werden wir gleich noch sprechen. Ich möchte erst einmal mit dir in unserer Rubrik „Wissenswert“ eine Studie anschauen. Ich werde zukünftig in jeder Folge eine Studie vorstellen, die zum Thema passt. Heute geht es darum, wie Menschen besser mit dem Gefühl von Wut umgehen können. Ich bin gespannt, was du dazu sagst. Das ist eine Studie aus Japan. Da haben Forscher untersucht, wie man mit Wut am besten umgehen und sie loswerden kann.
Anja: Mhm.
Peggy: Denn sie sagen: Es ist nicht gut, Wut zu unterdrücken. Und Ablenkung funktioniert auch nicht so gut. Deshalb haben sie den sogenannten Wutzetteltrick untersucht. Kennst du den?
Anja: Ich bin jetzt sehr gespannt, was du sagst. Ich habe eine Idee, aber ich hör’s mir mal an.
Peggy: Sie haben herausgefunden, dass es sehr effektiv ist, die Gedanken aufzuschreiben – also die Wut niederzuschreiben. Zwei Gruppen wurden untersucht: Eine hat die Gedanken einfach nur aufgeschrieben und den Zettel auf den Tisch gelegt. Die andere hat den Zettel nach dem Schreiben zerknüllt und weggeworfen oder geschreddert. Und die Forscher haben festgestellt: Die Menschen, die den Zettel aktiv weggeworfen haben, konnten ihre Wut tatsächlich besser loslassen.
Anja: Ich finde, das ist eine total charmante Methode. Ich kenne das auch aus dem Coaching – da habe ich so etwas Ähnliches meinen Klientinnen und Klienten auch schon empfohlen. Einen Brief schreiben mit der Wut, ihn dann verbrennen oder auf ein Schiff setzen. Ich glaube, das funktioniert. Die Frage ist natürlich, ob das auch mit einem demenziell veränderten Menschen funktioniert – das weiß ich nicht. Könnte man ausprobieren. Aber wenn es darum geht, wie Angehörige mit ihrer Wut umgehen, ist das ein sehr nachvollziehbarer und empfehlenswerter Weg. Einfach mal ausprobieren, ob es etwas bringt.
Peggy: Mhm. Nehme ich mit in meinen Notfallkoffer. Wir haben zwar keinen Fluss, auf dem ich was treiben lassen kann, aber irgendwas findet sich. Wenn ihr euch die Studie noch mal selbst anschauen wollt, der Link ist in den Shownotes.
Jetzt haben wir den Wutzetteltrick besprochen. Das ist eine gute Methode, um in akuten Situationen ein bisschen runterzufahren. Hast du sonst noch Strategien oder Empfehlungen – gerade auch aus dem Coaching –, die du unseren Hörenden mitgeben kannst?
Anja: Jetzt sortiere ich noch mal: einmal im Umgang mit dem Angehörigen, also mit dem Menschen mit Demenz. Da funktioniert meiner Ansicht nach ganz gut, was man Koregulation nennt. Wenn ich selber wütend werde oder Gefühle zu überschwappen drohen – egal ob Wut oder ein anderes Gefühl –, dann geht es häufig darum, in die Selbstregulation zu kommen. Also sich selbst wieder runterzukochen oder zu beruhigen. Und da hilft zum Beispiel Atmen.
Ich finde das einen guten „Separator“. Häufig ist es ja so: Da gibt es einen Reiz – also eine Situation, die mich nervt oder aufregt. Dann kommt meine emotionale Reaktion. Und dann handle ich entsprechend. Viktor Frankl hat mal gesagt: Zwischen Reiz und Reaktion liegt die Freiheit. Und genau da kann ich ein Stoppschild setzen. Bevor ich also reagiere – vielleicht wütend –, kann ich sagen: „Stopp.“ Und dieses Stoppschild kann ein tiefer Atemzug sein oder auch der Entschluss, kurz den Raum zu verlassen.
Peggy: Das ist für einen Menschen mit Demenz eventuell nicht so einfach. Aber da kann ich versuchen, selber kurz zu regulieren. Kannst du mal ein konkretes Beispiel geben, wie du das mit dem Atmen meinst?
Anja: Klar. Nehmen wir eine konkrete Situation: Meine Mutter ruft mich in der Firma an, weil sie ihren Schlüssel verlegt hat – und sie ist total aufgeregt. Das ist gestern schon passiert und vorgestern auch. Das ist so eine Situation, in der ich irgendwann verzweifle und mir denke: „Es kann doch nicht sein, dass das schon wieder passiert.“ Und bevor ich am Telefon sage: „Mama, das passiert täglich, du kannst mich nicht immer bei der Arbeit anrufen“, kann ich, wenn ich es bemerke, ein inneres Stopp setzen. Ich hole erstmal Luft, warte einen Moment – und dann reagiere ich vielleicht etwas maßvoller.
Ich frage mich: Aus welcher Rolle reagiere ich gerade? Bin ich die gestresste Mitarbeiterin, die genervte Tochter – oder kann ich aus der Rolle der Fürsorgenden heraus agieren? Und mir denken: „Ja, meine Mama hat halt eine Demenz. Sie verlegt Dinge.“ Dann versuche ich, sie in dem Gespräch zu beruhigen und anders zu sprechen, als wenn ich direkt aus dem ersten Impuls handeln würde.
Peggy: Das heißt, wenn ich dich richtig verstehe: Ich als Angehörige muss in so eine Führungsrolle gehen. Ich muss mich selbst regulieren und meinen Angehörigen auf dieser Basis mitnehmen – denn sonst steigern wir uns wie in einer Spirale hoch.
Anja: Genau. Es geht darum, diese Beziehungsdynamik zu unterbrechen. Ich komme in die führende Rolle. Vielleicht hilft es auch, sich in Rollen hineinzudenken. Ich sage mir: Ich gehe jetzt in die fürsorgende oder pflegende Rolle. Ich merke: Da ist Aufregung – ich reguliere mich herunter. In der Art, wie ich reagiere – ruhig, angemessen, nicht ärgerlich –, vermeide ich, dass die Wutspirale weiter nach oben geht. Ich nehme meinen Angehörigen mit. Im Coaching nennt man das „mitgehen und führen“. Man kann es auch als Koregulation verstehen.
Das kann im Umgang mit Menschen mit Demenz sehr hilfreich sein – denn sie verlieren ja oft die Fähigkeit zur Selbstregulation.
Peggy: Und das kann sowohl am Telefon als auch im direkten Kontakt funktionieren?
Anja: Ja, beides. Ich kann das auch über Körperkontakt machen, indem ich zum Beispiel die Hände nehme. Natürlich abhängig von der Beziehung – was vertraut ist, was angemessen ist. Ziel ist es, in Führung zu gehen und aus der Aufregung herauszuführen. Dafür braucht es Selbstregulationsfähigkeit – und die kann man üben und lernen.
Peggy: Das klingt trotzdem irgendwie so einfach. Aber du weißt ja sicher auch aus deiner eigenen Erfahrung – in diesen Momenten ist es gar nicht so leicht, in eine andere Rolle zu schlüpfen oder tatsächlich ruhig durchzuatmen. Wie ging es dir denn als Angehörige?
Anja: Ich muss da immer wieder zurückdenken, auch wenn ich mit Klientinnen und Klienten spreche und solche Strategien vorstelle. Ich weiß natürlich, dass das ein hehres Ziel ist und gar nicht so einfach umzusetzen. Wobei ich sagen muss: Das mit dem Atmen hat bei mir tatsächlich immer ganz gut funktioniert. Das kann man sich wirklich angewöhnen. Man gewinnt dadurch eine Sekunde oder zwei.
Dieses Innehalten: „Was ist das jetzt für eine Situation?“ – und mit dem Ausatmen kommt man schon etwas mehr in die Ruhe. Das ist wie ein kleiner Separator. Ich habe, glaube ich, auch schon mal in einer früheren Folge von dem Umzug meiner Mutter erzählt – aus dem Haus in eine Wohnung bei uns.
Peggy: Magst du die Geschichte noch mal erzählen?
Anja: Ja, gerne. Also: Meine Mutter saß auf gepackten Kisten. Sie hatte noch eine Nacht im alten Haus verbracht, bevor der Umzug anstand. Es war alles vorbereitet. Ich komme am nächsten Morgen hin – und meine Mutter hat in der Nacht alle Kisten wieder ausgeräumt.
Das ist so ein Moment, in dem man denkt: „Danke…“ Und natürlich war ich auch aufgeregt wegen des Umzugs, nicht gerade in der ruhigsten Verfassung. Ich wusste: Gleich kommen die Umzugshelfer. Ich war natürlich in Rage, habe auf sie eingeredet: „Mama, was machst du? Jetzt kommen doch gleich die Helfer!“ Ich habe gemerkt, wie ich mich immer mehr reinsteigerte. Und dann dachte ich: Das bringt jetzt alles gar nichts.
Ich bin raus auf die Terrasse gegangen. Es war morgens, frische Luft. Ich habe tief durchgeatmet. Ich habe mir gedacht: „Jetzt rettet mich hier keiner – ich muss die Situation so annehmen, wie sie ist.“ Aber wenn ich jetzt wütend auf meine Mama bin, hilft das niemandem. Ich habe dann meine Schwester angerufen, die mir gut zugeredet hat: „Anja, du schaffst das.“
Dann bin ich wieder rein – mit neuer Energie, nach fünf oder zehn Minuten. Ich habe gesagt: „Okay, jetzt packen wir die Kisten wieder.“ Und meine Mutter hat sich gebraucht gefühlt, hat mitgemacht, und wir haben es irgendwie geschafft.
Peggy: Ja, ich habe eine ähnliche Erfahrung gemacht. Wir haben Geld gesucht, das mein Papa in irgendeinem Buch versteckt hatte und nicht mehr wusste, in welchem. Ich weiß nicht, wie oft wir diese Bücher durchgeschaut haben. Er wurde immer wütender – und ich auch. Irgendwann habe ich gedacht: „Ich muss hier raus. Das wird nicht gut so.“ Ich bin zum See gefahren, fünf Minuten schwimmen. Eine halbe Stunde später war ich wieder da, und es war viel ruhiger.
Aber diese Möglichkeit rauszugehen – die hat man ja nicht immer. Und manchmal hat man auch Angst, die Person allein zu lassen. Dass sie sich vielleicht etwas tut oder eine Gefahr besteht.
Anja: Ja, da bin ich ganz bei dir. Aber auch da hilft vielleicht wieder das Umschalten in die fürsorgende Rolle. Nicht aus der Tochterbrille heraus handeln, die gerade verzweifelt ist, sondern zu sagen: „Ich gehe jetzt in die Rolle der Fürsorgenden.“ Und wenn es um Selbst- oder Fremdgefährdung geht, dann kann ich auch mit einer gewissen fürsorglichen Autorität agieren und sagen: „Stopp.“
Das darf ich dann in dieser Rolle auch. Und so kann ich vielleicht auch in einer Weise mit meinem Vater, meiner Mutter oder meinem Partner umgehen, die ich in einem anderen Kontext nicht vertreten würde – aber hier ist sie angemessen.
Peggy: Ein Thema, über das man wirklich fast gar nicht spricht, das aber in wütenden Situationen auftreten kann, ist, dass es handgreiflich wird. Was kann ich dann als Angehörige tun?
Anja: Es ist gut, dass du das ansprichst, denn das ist natürlich eine sehr besondere Situation – aber sie kann vorkommen. Und hier ist es ganz wichtig, ein klares Stoppschild zu setzen – sowohl für den anderen als auch für mich. Wenn ich merke, es kommt zu körperlicher Nähe oder Handgreiflichkeit, dann sage ich laut und deutlich: „Stopp!“ Ich kann das mit einer Geste unterstreichen – zum Beispiel mit einer erhobenen Hand. Und dann muss ich versuchen, die Situation sofort zu verlassen. Ich gehe in einen anderen Raum. Und wenn es wirklich bedrohlich oder gefährlich wird, dann muss ich Hilfe holen – das kann die Nachbarin sein, im Zweifel auch die Polizei.
Peggy: Im Zweifel also tatsächlich die 110?
Anja: Genau. Das muss dann auch möglich sein. Es gibt durchaus Berichte von pflegenden Angehörigen, die in solche Situationen geraten sind. Deshalb der klare Rat: Laut und deutlich „Stopp“ sagen – und das Ziel muss sein, die Situation zu beenden.
Peggy: Nun ist es ja auch so, dass manche Demenzerkrankungen mit Wahnvorstellungen oder Halluzinationen einhergehen – und da kann ja auch eine sehr aggressive Stimmung aufkommen.
Anja: Ja, das stimmt. Und in solchen Fällen hilft es manchmal wenig, einfach „Stopp“ zu sagen oder sich zurückzuziehen. Da möchte ich noch mal aus meinem Erfahrungsschatz erzählen: Solche Symptome können pflegende Angehörige wirklich überfordern – das höre ich immer wieder.
Wichtig ist hier zunächst: das ärztlich abklären. Also, wenn solche Symptome auftreten, sollte man mit einem Facharzt sprechen – einem Neurologen zum Beispiel. Aber es gibt auch Angehörige, die in solchen Situationen erstaunlich gut reagieren. Indem sie sich einlassen – auf das, was der Mensch mit Demenz erlebt.
Peggy: Kannst du ein Beispiel nennen?
Anja: Ja. Eine Klientin hat mir erzählt, dass ihre Mutter im Wohnzimmer saß, es wurde dunkel, und es gab Lichtreflexionen in der Fensterscheibe. Die Mutter meinte, da wären Menschen im Raum. Und statt zu widersprechen – „Da ist doch niemand!“ –, hat die Tochter gesagt: „Na gut, wenn da so viele Leute sind, dann machen wir denen jetzt was zu essen.“ Das ist natürlich ein besonderes Beispiel, aber ich finde: Chapeau! Dafür braucht man viel Ruhe, Gelassenheit – und manchmal auch Humor. Es kann sehr helfen, sich auf die Realität des anderen einzulassen. Wenn man dagegenhält, entsteht oft eine negative Dynamik – Wut, Ärger und Eskalation.
Peggy: Du hast es gerade angedeutet – für solche „Spezialfälle“ sollte man das Verhalten auch ärztlich besprechen, oder?
Anja: Ja, absolut. Wenn eine Symptomatik auftritt, für die der Mensch nichts kann, ist es wichtig, mit dem Arzt zu sprechen. Da lohnt sich die berühmte „Detektivbrille“: Ich schaue genau hin – was passiert hier eigentlich? Was könnte dahinter stecken? Vielleicht ein unerkanntes Bedürfnis oder auch Schmerzen?
Also: Wann tritt das Verhalten auf? In welchen Situationen? Was war vorher, was danach? Und eventuell kann auch eine medikamentöse Unterstützung notwendig sein – aber das ist dann natürlich immer mit dem Arzt zu besprechen.
Peggy: Ich höre aus allem ein großes Plädoyer dafür, über Wut zu sprechen – weil es beiden hilft: den Betroffenen und den Angehörigen.
Anja: Genau. Und ich denke, es ist wichtig, sich Hilfe zu holen – damit man nicht in Ohnmacht oder Verzweiflung rutscht. Gerade das kann ja in wütenden oder aggressiven Momenten zu Reaktionen führen, die man später bereut. Es lohnt sich, mit Profis oder in Angehörigengruppen zu sprechen. Dort kann man solche Themen thematisieren – auch wenn sie erst spät im Gespräch auftauchen. Dann kann die Gruppenleitung sie beim nächsten Mal bewusst in den Mittelpunkt stellen.
Peggy: Jetzt bist du schon mitten in den langfristigen Strategien – da wollte ich auch noch mit dir drüber sprechen. Wir haben über das gesprochen, was man akut machen kann. Aber welche Strategien gibt es, um langfristig besser mit Wut umzugehen? Oder um vielleicht solchen Situationen vorzubeugen?
Anja: Ich finde es hilfreich, solche Situationen zu sammeln, in denen bei mir Wut oder auch beim erkrankten Angehörigen Ärger aufgetreten ist. Man kann sie aufschreiben und reflektieren: Wann genau ist das passiert? Was war vorher? Was war danach? Habe ich etwas gemacht, das geholfen hat?
So kann man Muster erkennen. Vielleicht ergibt sich daraus ein „Werkzeugkoffer“, den man beim nächsten Mal wieder nutzen kann. Und es hilft auch in der Selbstreflexion: Man betrachtet das Ganze aus der „Adlerperspektive“, wie ein guter Freund. Dann kann ich mir selbst gute Ratschläge geben – weil ich sehe, was funktioniert hat.
Peggy: Ist das auch eine Möglichkeit, Selbstmitgefühl zu zeigen? Gerade in Situationen, in denen man nicht so geduldig war, wie man es gerne gewesen wäre?
Anja: Ja – gut, dass du mich daran erinnerst. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Wie gehe ich mit solchen Gefühlen um? Erstmal: Gefühle gehören dazu – auch in schwierigen Situationen. Wenn so ein Gefühl auftaucht, dann ist das ja auch ein Hinweis für mich. Ich sollte mich deshalb nicht verurteilen. Ich kann lernen, damit umzugehen.
Wenn eine Situation rückblickend nicht gut gelaufen ist, sollte ich nicht zu streng mit mir sein. Wir sind alle Lernende – und dürfen nachsichtig mit uns sein, wenn wir mal ein hartes Wort gesagt oder die Geduld verloren haben. Wichtig ist dann: Was lerne ich fürs nächste Mal?
Peggy: Wenn du zurückblickst auf deine Erfahrungen mit deiner Mutter als pflegende Angehörige – gibt es etwas, das du der jüngeren Anja raten würdest? Gerade für schwierige Situationen?
Anja: Ja. Ich würde mir raten, die Gemeinschaft anderer zu nutzen – um über diese Themen zu sprechen. Ich habe das damals nicht getan, bin nicht in Angehörigengruppen gegangen. Vielleicht aus Scham. Ich dachte: „Das ist schon heftig, was wir da erleben.“ Und ich habe mich nicht getraut, mich zuzumuten.
Aber heute sehe ich, wie gut es tut. In einem geschützten Raum mit anderen Angehörigen zu sprechen. Zu sehen: Ich bin nicht allein. Es geht anderen auch so. Und von anderen zu lernen. Sich in seiner eigenen Verletzlichkeit zu zeigen – und dann durch den Zuspruch der anderen gestärkt rauszugehen. Wenn ich noch mal durch so eine Situation gehen müsste – ich würde mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Peggy: Danke, liebe Anja. Danke, dass wir so offen über ein Thema gesprochen haben, über das man sonst nicht so gerne spricht – und dass du Mut gemacht hast, sich dem zu nähern.
Ich nehme ganz viel für meine eigene Situation mit. Ich fand es zum Beispiel total wertvoll, noch mal zu hören, wie wichtig es ist, genau hinzuschauen: Woher kommt diese Wut? Was will sie mir sagen? Welches Bedürfnis steckt dahinter? Und was für ein Zusammenspiel gibt es mit mir als Angehörige? Ich bin oft die Person, die einen Schritt vorangehen und den anderen mitnehmen muss – bildlich gesprochen an die Hand.
Wie auch immer das aussieht. Und vielen Dank für die guten Strategien – ein Moment des Durchatmens kann schon einen Unterschied machen. Und wenn nicht, dann probieren wir eben den Wutzetteltrick aus.
Zum Abschluss möchten wir euch noch ein paar aktuelle Angebote und Infos von Desideria mitgeben. Desideria ist ein Verein, der sich für Angehörige von Menschen mit Demenz einsetzt – mit ganz unterschiedlichen Angeboten: Angehörigenseminare, Angehörigengruppen, individuelle Coachings. Und es gibt auch die Impulsworkshops.
Vielleicht fragt ihr euch: Was ist das genau – und wie unterscheiden sie sich von Angehörigengruppen? Zum Glück ist Anja noch da, um uns das zu erklären.
Anja: Die Impulsworkshops beschäftigen sich mit bestimmten Themen. Es gibt einen kleinen Vortrag von einem eingeladenen Gast oder Experten, der wertvolle Ideen gibt, um tiefer ins Thema einzusteigen. Danach tauschen sich die Teilnehmenden untereinander aus. Sie beraten sich gegenseitig, geben sich Anregungen. Man bekommt also sowohl Input als auch Austausch mit anderen, die ähnliche Erfahrungen machen.
Peggy: Und jeder entscheidet selbst, wie tief er sich einbringen möchte, oder?
Anja: Genau. Es sind kleine Gruppen, in denen man gut selbst entscheiden kann, wie viel man von sich zeigt. Es geht nicht darum, die eigene Geschichte auszubreiten, sondern eher darum, kleine Impulse mitzunehmen, Tipps, Ideen, Anregungen für den Alltag. Ich finde, es ist ein sehr lohnendes und bereicherndes Format.
Peggy: Wie war das Feedback bisher?
Anja: Ehrlich gesagt: überwältigend gut. Wir sind letztes Jahr mit diesem Format gestartet und bekommen tolles Feedback. Die Teilnehmerzahlen sprechen für sich – und deshalb bauen wir die Themen jetzt weiter aus und bieten die Workshops in höherer Frequenz an.
Die nächsten Impulsworkshops sind: „Einsamkeit bewältigen“ und später „Vereinbarkeit von Beruf und Pflege“. Die Infos und Termine für das ganze Jahr findet ihr auf unserer Homepage. Den Link dazu gibt’s in den Shownotes.
Peggy: Vielen Dank, liebe Anja, dass du heute da warst und wir wieder zusammen aufgenommen haben.
Anja: Mir hat es auch viel Spaß gemacht. Danke für die Einladung.
Peggy: Das war Leben, lieben, pflegen – der Desideria Podcast zu Demenz und Familie. Vielen Dank auch an Til Wollenweber für Technik und Produktion. Ich hoffe, euch hat die Folge gefallen. Empfehlt den Podcast gerne weiter. Weitere Infos und alle Folgen findet ihr auf unserer Website www.lebenliebenpflegen.de und auf Instagram unter @desideria.
Und nicht zu vergessen: Vielen Dank an unseren Kooperationspartner – die Landhausküche von Appetito. Der Mahlzeitendienst versorgt euch täglich mit einer warmen Mahlzeit, inklusive Services wie Schlüsselservice. Den Rabattcode Desideria10 für Neukunden findet ihr in den Shownotes.