
Wahrheit
Für Betroffene ist die Wahrnehmung von Wahrheit bei Demenz oft eine andere als für ihr Umfeld. Gerade deshalb braucht es Verständnis, Akzeptanz und Einfühlungsvermögen.
Menschen mit Demenz leben in einer eigenen Realität, die sich von der „objektiven Außenwelt“ zunehmend entfernt. Was für Gesunde als eindeutig erscheint, ist für Betroffene oftmals nicht mehr zugänglich. Der Medienethiker Thilo Hagendorff beschreibt Realität als eine materielle Wirklichkeit, die über die Sinne wahrgenommen und sprachlich dargestellt werden kann. Doch mit der Diagnose Demenz wird diese Vorstellung brüchig: Denn die Wahrnehmung verändert sich, und damit auch das Verständnis von Wahrheit.
Die Realität verschiebt sich
Schon früh in der Erkrankung leiden Betroffene an einer verminderten Krankheitswahrnehmung. Sie beobachten Dinge, die andere nicht sehen, erleben Situationen anders, ihre Wahrheit unterscheidet sich von der der Außenwelt. Für Angehörige und Pflegende führt dieser Unterschied oft zu Verunsicherung oder zu Konflikten.
Vermeintlich einfache Dinge wie Zeitangaben, Namen oder Orte verlieren an Bedeutung. Das Gehirn verarbeitet Informationen langsamer oder falsch. Gefühle von Orientierungslosigkeit, Misstrauen oder Bedrohung können entstehen und in Form von aggressivem Verhalten zum Ausdruck kommen.
Realitätsorientierung: ROT als Hilfestellung
Im frühen bis mittleren Stadium der Demenz kann das Training der Realitätsorientierung (ROT) unterstützend wirken. Dabei geht es darum, demenziell erkrankten Menschen Orientierung zu bieten:
- Soziale Orientierung: Wiederholung von Namen, Beziehungsrollen und bekannten Informationen
- Zeitliche Orientierung: Hinweise auf Uhrzeit, Datum, Jahreszeit und Tagesstruktur
- Räumliche Orientierung: Informationen zur Umgebung, Straße, Stadt oder Wohnung
Diese Orientierungshilfen können helfen, allerdings nur solange sie nicht überfordern. Im späteren Stadium der Demenz kann zu viel „Realität“ irritieren. Dann sollte man sich eher auf das emotionale Erleben konzentrieren.
Wahrheit und psychotische Symptome
Bei fortgeschrittener Demenz treten oft psychotische Symptome auf. Dazu gehören:
- Wahnvorstellungen wie Bestehlungs- oder Vergiftungswahn
- Halluzinationen, bei denen Betroffene Dinge sehen, hören oder fühlen, die nicht real sind
- Paranoide Gedanken, wie die Angst, kontrolliert oder verfolgt zu werden
Diese Symptome entstehen durch krankhafte Veränderungen im Gehirn, durch Sinneseinschränkungen oder soziale Isolation. Besonders häufig treten sie bei Alzheimer- und Lewy-Body-Demenz auf. Ob und wie Halluzinationen behandelt werden müssen, hängt davon ab, ob sie als bedrohlich erlebt werden. Bei Bedarf kommen moderne Neuroleptika zum Einsatz, klassische Neuroleptika hingegen sind z. B. bei Lewy-Body-Demenz kontraindiziert.
Umgang mit „falschen“ Wahrheiten
Versuche, Menschen mit Demenz von der „objektiven Wahrheit“ zu überzeugen, führen selten zum Erfolg. Ganz im Gegenteil: Sie verunsichern und erschrecken. Angehörige sollten stattdessen die Gefühle der Betroffenen ernst nehmen und empathisch reagieren.
Hier hilft der Ansatz der Validation: Es geht darum, die erlebte Realität des Gegenübers als gültig zu akzeptieren, auch wenn sie nicht den eigenen Maßstäben entspricht. Wer sich auf die „Wahrheit“ des anderen einlässt, schenkt Vertrauen, reduziert Ängste und fördert ein respektvolles Miteinander.
Wahrheit bei Demenz braucht Menschlichkeit
Im Umgang mit Menschen mit Demenz ist Wahrheit nicht nur eine Frage der Fakten, sondern vor allem der Beziehung. Die „objektive Realität“ tritt in den Hintergrund, entscheidend ist, wie sich der Mensch fühlt, was er erlebt und wie man ihm begegnet. Denn nicht alles, was richtig ist, ist auch hilfreich.
© demenzworld/Kompetenzzentrum Demenz Schleswig Holstein/Desideria
Weitere Fragezeichen im Kopf?
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