
Biografie
Die Beschäftigung mit der Biografie von Menschen mit Demenz ist ein zentrales Element in der Betreuung, da sie hilft, Verhalten besser zu verstehen und individuelle Bedürfnisse zu erkennen. Im späten Stadium der Krankheit sind jedoch Begegnung und Beziehung im Hier und Jetzt oft wichtiger als die Vergangenheit.
Das Wort Biografie setzt sich aus den griechischen Worten bios (Leben) und graphein (schreiben) zusammen und meint die Beschreibung des Lebens einer Person. Dazu gehören Informationen über ihre äußere Situation, etwa den Beruf oder die Heimat, ebenso wie Auskünfte über die Lebensweise, Gewohnheiten oder Vorlieben.
Aus äußeren Fakten und innerem Erleben entsteht Biografie. Ihre zeitlichen Ereignisse lassen sich fest verorten, ein statisches Gebilde ist sie dennoch nicht. Biografie ist immer auch eine Rekonstruktion der Vergangenheit und somit dem Wandel unterworfen. Der Grund liegt im inneren Erleben eines Menschen: Ehemals wichtige Ereignisse verblassen oder werden vergessen, andere Situationen treten in den Vordergrund.
Markante Einschnitte im Leben
Je älter ein Mensch wird, desto häufiger wechselt sie oder er im Leben die Rollen. Wir werden vom Kind zum Erwachsenen und vielleicht selbst Eltern. Wir übernehmen neue Verantwortungen, sei es im Beruf, für uns oder für andere. Vielleicht pflegen wir eines Tages die eigenen Eltern. Mit hoher Wahrscheinlichkeit erleben wir einmal das Ende einer Liebesbeziehung.
Wenn wir Kinder haben, gibt es den Moment, in dem sich das gemeinsame Zuhause leert. Irgendwann endet unser Berufsleben. Irgendwann werden wir krank. Irgendwann nähern wir uns dem Tod. Die Altersforscherin Ursula Lehr hat diese zeitgeschichtlichen Ereignisse in Lebensläufen gezählt und etwa 15 bis 20 markante Einschnitte pro Biografie beobachtet.
Während einer Demenz nimmt der Mensch zunehmend Abschied von der erlebten Welt der früheren Jahre. Die Gegenwart wird immens wichtig für das Ich-Erleben. Was früher gegolten hat, gilt nicht mehr. Der Kern des eigenen Menschseins wird zum tragenden Bestandteil jeder Beziehung, die an Demenz Erkrankte eingehen. «Der Mensch zeigt sich unverfälscht, ehrlich. Er kann nicht anders, als ehrlich zu sein», sagt der Schweizer Demenzexperte Michael Schmieder.
Wie Biografiearbeit das Selbstvertrauen stärken kann
Der Begriff der Biografiearbeit geht zurück auf den amerikanischen Gerontologen Robert N. Butler, der das Konzept der Lebensrückschau entwickelt hat. Demnach kann die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit Sicherheit geben, das Selbstvertrauen stärken und die schwierige Situation des Älterwerdens erleichtern.
In der Altenpflege ist die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte der Betreuten seit der Jahrtausendwende üblich. Dabei verfolgt die Biografiearbeit mehrere Ziele: Sie soll den Pflegenden dabei helfen, die Bedürfnisse sowie das Verhalten der Betreuten besser zu verstehen und die Beziehung zu ihnen zu verbessern.
Sie kann Hinweise für individuell geeignete Aktivierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen geben. Und sie soll die Identität und das Selbstvertrauen der Betreuten stärken. Zu den Methoden zählen Einzel- oder Gruppengespräche über frühere Zeiten, aktivierende Tätigkeiten wie Singen und Basteln oder die Beschäftigung mit Alltagsgegenständen aus vergangenen Tagen.
Wie Biografiearbeit bei Demenz gelingen kann
Menschen mit Demenz bringen ihre Lebensgeschichte mit ins Heim. Die Informationen darüber kommen aber meist von anderen Bezugspersonen und sind nur begrenzt verlässlich. Trotzdem ist es bei der Betreuung von demenziell erkrankten Menschen vorteilhaft, zu erkunden, was ihr Leben geprägt hat und in welchem Umfeld sie früher gelebt haben.
Richtig verstanden und ausgeführt kann Biografiearbeit den Betreuenden einen Zugang zu den ihnen Anvertrauten verschaffen, der auf Verständnis, Respekt und Empathie beruht. Das Wissen um die Biografie von Menschen mit Demenz kann Brücken zu ihren Wünschen, Bedürfnissen und Ängsten bauen. Es kann Hinweise darauf geben, was sie antreibt, was ihnen wichtig ist, was ihnen gut tut und ihnen Halt gibt.
Um sich diesen individuellen Besonderheiten anzunähern, ist es auch wichtig, das historische, kulturelle und soziale Umfeld zu kennen, in dem sie früher gelebt haben.
Biografie von Menschen mit Demenz: Wo die Grenzen der Biografiearbeit liegen
Über die Bedeutung der Biografie für die Betreuung von Menschen mit Demenz gibt es in Fachkreisen unterschiedliche Meinungen. Umstritten ist zum Beispiel die Tendenz, sogenannte Nostalgiezimmer einzurichten, die mit Gegenständen von früher dekoriert sind oder gar ganze Dörfer im Stil vergangener Zeiten einzurichten. Solche nostalgischen Bühnenbilder sollen dazu beitragen, dass das Langzeitgedächtnis von Menschen mit Demenz gefördert wird. Dabei wird aber außer Acht gelassen, dass die Betroffenen mitunter gar keinen Bezug mehr zu ihrem Vorleben finden und von nostalgischen Kulissen überfordert oder gar verängstigt werden. Vielleicht verbinden sie mit ihnen auch negative Erinnerungen.
Zum Beispiel kann ein Familienfotoalbum einen Menschen mit Demenz verunsichern und mit seinen Defiziten konfrontieren, wenn er nicht mehr weiß, wer die Abgebildeten sind. Auch die Einrichtung ihrer Zimmer mit persönlichen Möbeln, Gegenständen oder Fotos kann Menschen mit Demenz verwirren, wenn sie sich nicht mehr daran erinnern können.
Statt ihnen ihre Vergangenheit mit solchen Äußerlichkeiten aufzudrängen, gilt es vielmehr, ihnen sorgsam im Hier und Jetzt des Pflegealltags zu begegnen und ihnen das Gefühl der Geborgenheit zu geben. Dafür ist das Wissen um die Lebensgeschichte der Betreuten wiederum oft gar nicht von Belang. Dies gilt vor allem im späten Stadium der Demenz.
© demenzworld/Kompetenzzentrum Demenz Schleswig Holstein/Desideria
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